Leitkultur nach links gedreht
SPD-Fraktionschef Raed Saleh stellt in seinem neuen Buch Spielregeln fürs Zusammenleben auf
Dieser Auftritt war eine bewusste Inszenierung: Der SPD-Fraktionschef im Abgeordnetenhaus, Raed Saleh, war am Montag auf den Platz vor der Frauenkirche in Dresden gekommen, nicht nur, um sein Buch vorzustellen. Es ging ihm um mehr. »Kein Platz für Extremisten - Demokraten holen sich den öffentlichen Raum von Pegida & Co zurück«, lautete das selbstbewusste Motto von Salehs Aufritt in der sächsischen Landeshauptstadt.
Dort, wo sich sonst jeden Montagnachmittag Anhänger der rechtspopulistischen Pegida-Bewegung treffen, um gegen das »politische Establishment« zu demonstrieren und gegen »Multikulti« zu hetzen, wollte der Sozialdemokrat mit palästinensischen Wurzeln sein zusammen mit SPD-Fraktionssprecher Markus Frenzel verfasstes Buch der Öffentlichkeit präsentieren.
Der Titel: »Ich deutsch«, der ambitionierte Anspruch: Ideen für eine »neue deutsche Leitkultur« zu entwickeln, samt konkreten »Spielregeln« für das Gelingen eines »friedlichen, angstfreien, gerechten Miteinanders aller 82 Millionen Deutschen in größtmöglicher Harmonie«. »Wir dürfen den Hetzern nicht tatenlos zusehen, sondern müssen uns aus unseren bequemen Sesseln erheben und laut und deutlich Stellung beziehen«, fasst Saleh seine Motivation zusammen. Gegen die Feinde der Freiheit, gleich ob rechtsextrem, linksextrem oder islamistisch, müsse sich die Demokratie wehrhaft zeigen.
Leitkultur sei nicht rechts und konservativ, so Saleh, sondern im Kern links. »Die neue Leitkultur erkennt an, dass sich die Gesellschaft in den letzten 30 Jahren entwickelt hat«, konstatiert der Politiker und fordert die Anerkennung der Einwanderungsgesellschaft als gelebte Realität.
Dass er mit seiner Biografie Teil dieser Realität ist, betont der 40-Jährige gerne. Geboren in Sebastia im Westjordanland, kam Saleh als Fünfjähriger mit seiner Familie nach Berlin. Aufgewachsen im Spandauer Problemkiez um die Heerstraße-Nord, musste er sich in seiner Karriere immer wieder durchbeißen. Das hat Saleh geschafft. Heute ist er, der sich als säkularer Muslim bezeichnet, erfolgreicher Unternehmer und Chef der größten politischen Fraktion im Abgeordnetenhaus. Seine Ambitionen, eines Tages Bürgermeister werden zu wollen, sind stadtbekannt.
Indem Saleh immer wieder auf seinen eigenen Lebensweg zu sprechen kommt, möchte er speziell Jugendlichen mit Migrationshintergrund Mut machen: »Ich sehe ein Land, das in Bewegung ist, das stark ist, das seinen Bürgern Geborgenheit bietet und ihnen trotzdem alle Möglichkeiten eröffnet.« Damit das auch so bleibt, brauche es ein ganz bestimmtes moralisch-ethisch-kulturelles Regelwerk für die Gesellschaft, eine »neue Leitkultur« eben. Und das bedeutet für Saleh eine Menge: Bewegungsfreiheit, einen Platz für jeden, unabhängig von Religion, Herkunft und Geschlecht, Gleichberechtigung, Ostseeurlaub, Schlagermusik und Umweltschutz.
Das mag zusammengewürfelt klingen. Ist es aber nicht, wenn man bedenkt, dass die von Saleh angesprochenen Punkte für viele Deutsche identitätsstiftend sind. Jemand nichtdeutscher Herkunft erklärt, was für ihn deutsch ist und warum er für einen »aufgeklärten Patriotismus« eintritt. Das hat Neuigkeitswert. Geradezu visionär wird Saleh, wenn er schreibt: »Das Judentum gehört zur deutschen Leitkultur - keine Frage. Aber dasselbe gilt für den Islam.«
Schon wegen dieser zwei Sätze, muss man Saleh für seinen Debattenbeitrag in Buchform danken. Endlich mal kein inhaltsleeres Geschwafel vom christlich-jüdischen Abendland, sondern Anerkennung der eigenständigen Kulturleistung der jüdischen Gemeinschaft für die gesamtdeutsche Gesellschaft. Endlich mal kein inhaltsleeres Geschwätz à la »der Islam gehört zu Deutschland«, sondern Anerkennung des gesellschaftlichen Beitrags von vielen friedlich in Deutschland lebenden Muslimen. Leitkultur war eine abgegriffene Negativformel. Saleh hat es geschafft, den Begriff mit neuem Leben zu füllen und progressiv umzudeuten.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.