G20: Woher kam das Reizgas?
Verletzte hessische Polizisten sorgten für Schlagzeilen - doch wohl nicht alle behördlichen Meldungen sind haltbar
»Eine flächendeckende Attacke mit Tränengas und/oder Pfefferspray auf 130 Polizisten ist mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit ein Schauermärchen«, erklärt Alexis Passadakis von Attac unter Verweis auf ähnlich gelagerte Fälle in der Vergangenheit. »Bereits bei vergangenen Gipfeln haben die Behörden irreführende oder bewusst falsche Zahlen von Verletzten lanciert. Genauso Berichte über Angriffe, die sich im Nachhinein als falsch erwiesen.« Passadakis erzählt etwa von einer angeblichen Säureattacke auf Polizisten - die Säure habe sich letztlich als »Seifenblasenlauge der Clowns Army« entpuppt. Auch sei dies nicht das erste Mal, dass sich Polizisten wohl selbst mit Reizgas eingedeckt haben.
Der aktuelle Fall ist dagegen aus zweifacher Hinsicht ernst zu nehmen. Zum einen stammt die Information diesmal direkt aus einem Landesinnenministerium, zum anderen wäre ein Reizgas- oder Pfeffersprayangriff mit 130 verletzten Polizisten wohl einmalig in der deutschen Demonstrationsgeschichte. Allerdings mehren sich die Zweifel an der Richtigkeit dieser Darstellung. Auf der Bilanz-Pressekonferenz mit Polizeipräsident Ralf Meyer und Gesamteinsatzleiter Hartmut Dudde etwa wurde der vermeintliche Großangriff, der immerhin für fast dreißig Prozent aller bei G20 verletzten Polizisten verantwortlich sein soll, mit keinem Wort erwähnt. Stattdessen erklären zwei Augenzeugen nun gegenüber »nd« übereinstimmend, es sei am Samstag Abend im Schanzenviertel zu einer plötzlichen, anlasslosen und brutalen Räumung des Platzes vor der Roten Flora durch die Polizei gekommen. In der folgenden Stunde liefen demnach vermummte Einheiten der Polizei auf und ab und machten gelegentlich Jagd auf Umstehende. Ein Demonstrant fasste die Übergriffe der Polizei gegenüber »graswurzel.tv« zusammen: »Keine Provokation, die haben einfach Bock.«
Was dann folgte, war ein Polizeieinsatz, der bis in die frühen Morgenstunden dauerte und bei dem immer wieder Wasserwerfer und Räumpanzer durch das sich zusehends leerende Schulterblatt fuhren. Während dieses über mehrere Stunden andauernden »Dauerkreisverkehrs« kam es laut den Zeugenberichten auch zu Abschüssen von Tränengaskartuschen von den Polizeieinheiten in Richtung der Demonstranten: »An der Kreuzung vor der Flora ist beispielsweise eine Gaskartusche explodiert, die von der unteren Straße aufwärts kam, sprich aus Richtung der Behelmten und ihrer Einsatzfahrzeuge.« Auf die Frage, ob es möglich sei, dass von den zu diesem Zeitpunkt noch anwesenden Demonstranten ein groß angelegter Gegenangriff mit Reizgas stattgefunden habe, antwortet ein Augenzeuge, der wie alle anderen seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte: »Nur ein Bruchteil der Leute war demonstrationserfahren. Es gab quasi keine Bezugsgruppen und nichts. Stattdessen: Besoffene, die sich T-Shirts in diversen Farben umgeschnallt hatten, beziehungsweise in ihren Kapuzen und Kleidungskragen Atemschutz suchten. Keiner der vermeintlichen «Demonstranten» hat sich nur ansatzweise getraut, nah genug an die Polizisten heranzutreten, um Pfefferspray überhaupt einsetzen zu können.«
Rafael Behr, Professor für Polizeiwissenschaften an der Polizeiakademie Hamburg, bemerkte schließlich gegenüber buzzfeed.com: »Mit höchster Wahrscheinlichkeit sind das Beamte, wo die Autonomen die Geschosse mit dem Reizstoff einfach wieder zurück geworfen haben.« Jedoch wird nicht einmal diese Version von den Zeugen bestätigt.
Die Pressestelle des hessischen Innenministeriums blieb trotz mehrfacher Nachfrage eine Klarstellung schuldig. Zu möglichen politischen Konsequenzen von falschen Behauptungen seitens der Innenbehörde stellt Alexis Passadakis indes fest: »Falls der hessische Innenminister bewusst Falschaussagen zu dem Verlauf der G20-Proteste lanciert, bliebe als Konsequenz nur ein Rücktritt.«
Janine Wissler, Linksfraktionschefin im hessischen Landtag, weist darüberhinaus darauf hin, dass der Minister so etwas nach Blockupy »schon so ähnlich behauptet« habe. Im übrigen sei es auch nicht plausibel, »woher solche Mengen Pfefferspray kommen sollten«.
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