Türkei: Entlassene Beamte seit 135 Tagen im Hungerstreik

Wissenschaftlerin Nuriye Gülmen und Grundschullehrer Semih Özakça verweigern Nahrungsaufnahme, um ihre Rehabilitation zu erreichen

  • Kevin Hoffmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Es ist Tag 135 ihres Hungerstreiks, die Literaturwissenschaftlerin Nuriye Gülmen und der Lehrer Semih Özakça sind inzwischen körperlich massiv geschwächt. Sie haben in vergangenen vier Monaten nur Wasser, Zucker, Salz und Vitamin B zu sich genommen. Bei Besuchen im Gefängnis ist es nicht möglich, sich länger mit ihnen zu unterhalten – sie können sich nicht mehr konzentrieren und kaum noch sprechen, berichten ihre Anwälte. Warum sie dieses Martyrium auf sich nehmen? Gülmen und Özakça gehören zu den rund 145.000 Staatsbediensteten, die nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 ihren Job durch ein Notstandsdekret von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan verloren.

Gegen ihre Kündigung wegen des Vorwurfs der »Mitgliedschaft in einer Terrororganisation« und das damit einhergehende Berufsverbot im Staatsdienst protestieren die beiden vom ersten Tag an. Durch ihren öffentlichen Kampfes um Rehabilitation sowie Wiedereinstellung wurden Gülmen und Özakça zu einem Symbol des Widerstands gegen die Massenentlassungen und Massenfestnahmen in der Türkei. Ihnen selbst wurde zunächst von den Behörden eine Nähe zur hinter dem Putschversuch vermuteten Gülen-Bewegung nachgesagt. Ende Mai bezichtigte der türkische Innenminister Süleyman Soylu die beiden dann öffentlich, Mitglieder der verbotenen DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei – Front) zu sein.

Gülmen, die Dozentin an einer Uni in Konya war, und der ehemalige Lehrer an einer Grundschule in Mardin Özakça begannen zunächst mit einer täglichen Protestaktion vor dem Menschenrechtsdenkmal auf der Yüksel-Straße in Ankara. Täglich griff die Polizei die beiden dabei an und nahm sie fest. Nach vier Monaten, am 11. März, traten sie in den Hungerstreik und versuchten so ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Am späten Abend des 23. Mai wurden sie erneut inhaftiert und dauerhaft in Untersuchungshaft genommen.

Inzwischen ist für sie auch längeres Sitzen oder Laufen äußerst mühsam. Gülmen wiegt weniger als 35 Kilogramm. Da ihre Knochen förmlich aus ihrem Körper herausstehen, kann sie kaum liegen. die Bereitstellung eines speziellen Bettes, das die Schmerzen beim Liegen abmildern würde, wurde von der Gefängnisverwaltung abgelehnt. Laut Gülmens Anwälten werden sie und Özakça nachts regelmäßig von Gefängniswärtern geweckt, um zu sehen, ob sie noch am Leben sind. Am Dienstag meldete sich Özakça mit einer aufgenommenen Sprachnachricht aus dem Gefängnis zu Wort: »Gemeinsam werden wir erfolgreich sein. Schöne Tage, sonnige Tage warten auf uns alle, daran glaube ich mit ganzem Herzen.«

Auch die Ehefrau des Lehrers, Esra Özakça, ist in den Hungerstreik getreten. Sie steht laut der Nachrichtenplattform diken mittlerweile unter Hausarrest – wie andere Aktivisten, die öffentlich zur Solidarität mit Gülmen und Özakça aufrufen und ihre Aktion auf der Yüksel-Straße in Ankara weiter führen.

Zahlreiche Menschenrechtsorganisationen und Oppositionsparteien in der Türkei und auch in Europa unterstützen die Forderungen der beiden Hungerstreikenden. Bereits letzte Woche begannen Gefangene von Organisationen wie der MLKP, TKP/ML und PKK mit Solidaritätshungerstreiks in den Gefängnissen. Am Mittwoch hat auch die ebenfalls im Gefängnis sitzende Ko-Vorsitzende der kurdischen Demokratischen Partei der Regionen (BDP) Sebahat Tuncel einen dreitägigen Solidaritätshungerstreik auf sich genommen. Auch in Deutschland finden am kommenden Wochenende zahlreiche Solidaritätskundgebungen und symbolische Hungerstreiks statt.

Sollte der türkisch Staat nicht sehr bald auf die Forderungen von Gülmen und Özakça, muss mit dem Schlimmsten gerechnet werden.

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