Diese Blöße, diese Scheu

Blatt für Ulrich Mühe

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.

Heiner Müller sagte über Ulrich Mühe: »Ein x-beliebiger Schauspieler zeigt auf den Mond und sagt: Das ist der Mond! Mühe kann die Entfernung zum Mond spielen.« Dieser Darstellungskünstler verkörperte eine Lust auf die Enden der Welt. Die Enden sind dort, wo etwas nicht weiterführt - weil die physische Energie und die seelische Spannkraft an ein Ende kamen. Das Verlangen, mit allen Sinnen und Fasern da zu sein, trifft plötzlich auf die Magie der Selbstauflösung. Und das hält den Menschen gespannt federnd.

Diesen Schauspieler interessierte am Denken, ob es Nerven hat oder Muskeln. Spiel wie das dünne Brett über dem Abgrund, das den Übergang aushält, nicht aber ein Verweilen. Mühe war ein Asket bis zur sinnlich totalen Verausgabung. Für das schöne Leiden der Präzision. Durchscheinend, eisenhart; federweich, schilfzäh. Wenn er Verse und Gedanken sprach, dann war es, als habe die Welt vor ihnen nicht existiert. Das Wesen eines Satzes, sagt der Philosoph Wittgenstein, sei das Wesen der Welt. Solche Gottähnlichkeit kann sich keine Wissenschaft leisten, nicht einmal die Theologie. Schauspiel schon. Bei Mühe jedenfalls war es so.

Sein Name bleibt verbunden mit einer der fesselndsten Inszenierungen am Deutschen Theater Berlin: »Gespenster«, Regie Thomas Langhoff. Für den jungen Schauspieler aus Karl-Marx-Stadt war der Osvald in Ibsens Stück der sofortige Schritt in die Theatergeschichte. Aufstieg eines Baufacharbeiters aus Grimma, Jahrgang 1953, auch im Film: Hölderlin und Goebbels und Thomas Manns »Kleiner Herr Friedemann«. Wenn er spielte, mit großen Augen und einem Körper, der sich gern ins abenteuerlich Ungerade bog und zog, dann fuhren gleichsam Wirbel aus Abgründigkeit unter die Vernunft und lösten sie aus ihren Verschalungen. Offenbarung durch Blöße, aber noch die tollste Blöße verlor bei ihm nie den Glanz der Scheu.

Er ging dem Theater verloren, als die DDR verloren ging. Weil die Leute gingen. Auch Mühe ging, nach Wien, er hatte Mut zur Freiheit, er wollte keine Sicherheit mehr, und er mochte keine Willkür mehr, auch nicht jene Willkür, die ihn zum Privilegierten bis hin nach Salzburg erhoben hatte. Und aus dem großartigen Schauspielkünstler der Bühne (Egmont und Philotas, Lohndrücker und Hamlet, Clavigo und Peer Gynt) wurde ein gefragter, starker Filmcharakter, bei Helmut Dietl, Michael Haneke, Costa-Gavras. Vorher hatte er schon die Hauptrolle in Bernhard Wickis Joseph-Roth-Verfilmung »Das Spinnennetz« gespielt: von beklemmender Wahrhaftigkeit sein Porträt eines biegsamen politischen Hänflings - in einem Aufstieg, so jämmerlich, so schlotternd. Doch hinterm hässlich Bleichen immer sichtbar: der ganze Leidensschatz eines - Menschen.

An diesem Sonnabend ist es zehn Jahre her, dass Ulrich Mühe gestorben ist.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -