Völkermord in Deutsch-Südwest? Aufarbeitung … nein danke!
Aufschlussreiches Buch über den deutschen Umgang mit dem Genozid aus der Kolonialzeit im heutigen Namibia
Es ist wohl die bekannteste Thematik des deutschen Kolonialismus: Der Völkermord an den OvaHerero und Nama in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika ist Reibungspunkt politischer Debatten und Inhalt wissenschaftlicher Dispute. Reinhart Kößler und Henning Melber haben ein aktuelles Buch vorgelegt und dabei die (geschichts-)politische Diskussion bis März 2017 verarbeitet. «Völkermord - und was dann?» lautet der programmatische Titel der Publikation. Die Ausführungen setzen an dem Völkermord zwischen 1904 und 1908 an und analysieren die danach erfolgte Aufarbeitung - so unzureichend diese auch gewesen ist. Beide Autoren legen klar dar, wie die «eskalierende Kriegsführung der deutschen »Schutztruppe« als Völkermord gewertet werden muss. Dabei geht es nicht nur um den berüchtigten Vernichtungsbefehl des Generals Lothar von Trotha, in der Geschichtsschreibung manchmal lax als »Schießbefehl« bezeichnet. Es geht auch um den mörderischen Umgang mit zivilen Gefangenen und um die Zerstörung von Lebensbedingungen als Vernichtungsstrategien. Dabei führten die kriegerischen Auseinandersetzungen und die Vernichtung zu einer Transformation der kolonialen Gesellschaft. Kernelemente der Apartheidsystems entwickelten sich, die noch heute in Namibia sicht- und spürbar sind.
Es macht fassungslos, wenn Kößler und Melber die vielen unzureichenden, halbherzigen parlamentarischen Initiativen, Reden und Reisen seit 1989 aufzählen, die nur so von fehlendem Unschuldsbewusstsein und von Paternalismus - insbesondere der jeweiligen Regierungsparteien von CDU/CSU über SPD bis zu den Grünen - strotzen. Unter der Floskel der »besonderen Verantwortung« werden zwar Gelder für Entwicklungszusammenarbeit bereitgestellt, aber eine wirkliche Verantwortung wird nicht übernommen. Wie der Teufel das Weihwasser fürchtet man Wörter wie Entschuldigung oder Reparationen. Geradezu grotesk erscheint es, dass seitdem das Wort »Völkermord« in einer Pressekonferenz Mitte 2015 für dieses historisch eindeutige Ereignis fiel, die Verhandlungen um eine Entschuldigungsgeste zäh vor sich hindümpeln. Viele Beobachter gingen zu diesem Zeitpunkt davon aus, dass entweder der frühere Bundespräsident Joachim Gauck die Bitte um eine Entschuldigung ausspricht, oder aber eine solche wichtige Geste in der laufenden Legislaturperiode von Seiten des Bundestages erfolgt. Ersteres trat nicht ein, zweites wird auch nicht mehr zu erwarten sein. Hier verdeutlicht sich die kaum noch vorhandene Hoffnung beider Autoren auf konstruktive Neuansätze in der (erinnerungs-)politischen Aufarbeitung des Völkermordes.
Beide Autoren umreißen jedoch nicht nur politische Auseinandersetzungen, sondern analysieren auch die (jüngeren) kolonialapologetischen Medienberichte, unter denen der »Spiegel« herausstach, als er dem Revanchisten Hinrich Schneider-Waterberg als Zuträger für einen Artikel des ehemaligen Afrikakorrespondenten Bartholomäus Grill umfangreichen Platz einräumte. Nicht minder kontrovers sind die Kämpfe im öffentlichen oder musealen Raum, die Kößler und Melber als notwendigen Gestaltungsspielraum und postkolonialen Lernort wahrnehmen. Die zurzeit emotional geführte Debatte um die Berliner Lüderitzstraße, benannt nach dem Kaufmann Adolf Lüderitz, der auf betrügerische Weise Ländereien zu Beginn der Kolonialzeit erwarb, zeigt die Notwendigkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit unserer kolonialen Vergangenheit.
Geringen Raum nehmen leider die Zusammenfassungen der politischen, juristischen und identitätsstiftenden Aufarbeitungen der Nachfahren der vom Völkermord Betroffenen in Namibia ein. Hier gelingt es zu wenig, der Forderung von Vertretergruppen gerecht zu werden, sie als Akteure wahrzunehmen. Zu kurz kommt leider ebenso eine Diskussion über Entschädigungen, die auch in linken Kreisen für Kontroversen sorgt. Auch hier scheiden sich die Geister, ob Entschädigungen für einen Völkermord gezahlt werden sollten, der mehr als 100 Jahre zurück liegt. Daneben gehen beide Autoren zu wenig auf die mangelhafte Auseinandersetzung innerhalb der Kirchen und Missionsgesellschaften ein.
Dennoch: Dieses auf den ersten Blick dünne Buch für dieses wichtige - nicht nur kolonialhistorische - Thema umfasst viele Facetten und eignet sich sowohl zum thematischen Einstieg als auch zur vertiefenden Lektüre.
Reinhart Kößler/Henning Melber: Völkermord - und was dann? Die Politik deutsch-namibischer Vergangenheitsbearbeitung. Brandes & Apsel, 2017, 176 S., 19,90 Euro.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.