Absurder Prozess gegen »Cumhuriyet« in Istanbul
Kommentare und eine neue Gestaltung der Zeitung dienen als Beweise gegen türkische Journalisten
Am Montag begann einer der absurdesten Prozesse, die die Türkei in den letzten Jahren erlebt hat. Verhandelt wird gegen 17 Mitarbeiter der Zeitung »Cumhuriyet«, von denen sich elf in Untersuchungshaft befinden, die meisten seit mehr als acht Monaten. Abgetrennt ist das Verfahren gegen den ehemaligen Chefredakteur Can Dündar, der in Deutschland im Exil lebt.
Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, ausgerechnet das Flaggschiff des türkischen Laizismus in eine Zeitung verwandelt zu haben, die der Gülen-Sekte diente. Dazu muss man wissen, dass »Cumhuriyet« über Jahrzehnte ohne Wenn und Aber vor dem Prediger Fethullah Gülen gewarnt hat.
Mehr als 160 Journalisten sind nach Informationen von »Reporter ohne Grenzen« derzeit in der Türkei im Gefängnis. Die Organisation bezieht sich auf Daten der unabhängigen türkischen Medienplattform P24. Damit sei die Türkei das Land mit den meisten inhaftierten Medienschaffenden weltweit.
1400 Journalisten wurden seit dem Putschversuch arbeitslos.
Rund 130 Medienhäuser sind den Angaben zufolge geschlossen worden und weiterhin geschlossen. Darunter seien Zeitungsverlage ebenso wie Fernsehsender und Radiosender. Einige Blätter, etwa die Zeitung »Bugün«, erschienen unter einem Treuhänder mit anderem Mitarbeiterstab und komplett anderer politischer Ausrichtung neu. Die Zeitung »Radikal« wurde vermutlich auf Druck der Regierung vom Eigentümer über Nacht eingestellt.
29 Buchverlage seien zudem enteignet worden, hieß es bereits im Februar in einer Petition, die der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, die Schriftstellervereinigung PEN Deutschland und Reporter ohne Grenzen veröffentlicht hatten. Neben Buchverlagen wurden auch andere Medien enteignet. nd
Die Mitarbeiter sollen nicht nur die Gülen-Bewegung unterstützt haben, sondern auch die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und die linksradikale DHKP-C, die in der Türkei als Terrororganisationen gelistet sind. Einer der inhaftierten Journalisten, Ahmet Sik, erlebt gerade seine zweite Untersuchungshaft. Das erste Mal saß er 13 Monate, weil er in einem Buch beschrieben hat, wie Gülens Leute den Polizeiapparat unterwandert haben.
Danach hatte er sich dann wohl doch Gülen angeschlossen, das behauptet zumindest der Staatsanwalt. Kadri Gürsel, inhaftierter Kolumnist der »Cumhuriyet« und zugleich der Vertreter des International Press Institutes, zerpflückte die Anklage in seiner Verteidigung regelrecht. Das fing mit Kleinigkeiten an. So ist Kadri Gürsel laut Anklageschrift auch Vorsitzender der »Cumhuriyet«-Stiftung, der die Zeitung gehört. Doch da irrt sich der Staatsanwalt einfach, der Vorsitzende heißt nicht Kadri Gürsel, sondern Orhan Erinc. Gürsel wird unter anderem ein Kommentar mit dem Titel »Erdogan möchte unser Vater werden« vorgeworfen.
In diesem Kommentar sei, so die Anklage, die Persönlichkeit des Präsidenten »offen« aufs Korn genommen worden. Gürsel habe versucht, den Eindruck zu erwecken, dass es in der Türkei ein autoritäres Regime gebe. In diesem Falle kann man der Meinung sein, der Vorwurf belege eben dies. Als Beweis für Gürsels Verbindung mit den Gülen-Leuten behauptet die Anklageschrift, er habe mit 92 Menschen kommuniziert, die das auch von der Gülen-Sekte benutzte Verschlüsselungsprogramm ByLock verwendeten, sowie mit 21 Leuten, gegen die wegen Verbindungen zu Gülen ebenfalls ermittelt werde.
Doch nach Angaben von Gürsel bestanden fast alle diese Verbindungen aus 112 SMS-Nachrichten, die ihm innerhalb von fünf Tagen geschickt wurden. Damals hätten Gülen-Anhänger auf eine erste Festnahmewelle reagiert. Als eine Art Kampagne, um öffentlichen Druck zu machen, hätten Gülen-Sympathisanten Journalisten haufenweise SMS-Nachrichten geschickt. Diese Nachrichten habe er nicht beantwortet. Das könne man wohl keine »Verbindung« zwischen ihm und den SMS-Schreibern nennen. Übrigens könnte man Gürsel auch Post vom Staatsanwalt vorhalten, der die Anklageschrift zusammengestellt hat.
Denn auch gegen den Staatsanwalt läuft ein Verfahren wegen Mitgliedschaft in der »Fethullah Gülen Terrororganisation«. Die »Beweise« gegen die Beschäftigten von »Cumhuriyet« sind durchweg von dieser Art. Selbst die vorsichtige Änderung des Layouts der Zeitung wird als Beweis für die neuerliche Pro-Gülen-Ausrichtung der Zeitung gewertet. Richtig ist, dass es Streit um die Ausrichtung der Zeitung unter dem damals neuen Chefredakteur Can Dündar gab. Der ehemalige Mitarbeiter und spätere Abgeordnete Mustafa Balbay schrieb in einer verärgerten E-Mail, in der »Cumhuriyet« könne ja nun jeder Gülenist schreiben, nur nicht er.
Die E-Mail wird nun als wichtiger Beweis für die Unterwanderung der Zeitung durch Gülen gewertet. Zum Auftakt des Prozesses hatten sich reichlich Unterstützer vor dem Justizpalast im Istanbuler Stadtteil Caglayan versammelt. Das ist ein riesiger turmartiger Bau, in dessen oberstem Stockwerk die für Pressevergehen zuständige Staatsanwaltschaft residiert – mit Blick auf den nicht weit entfernten Hauptsitz der »Cumhuriyet«. Einige Oppositionsabgeordnete hielten kurze Reden. Die kurdische Abgeordnete Filiz Keresticioglu fasste ihren Eindruck von dem Prozess in die Worte: »Für die Regierung ist jeder Oppositionelle ein Terrorist. Nur sie sind keine Terroristen.«
Der Abgeordnete Baris Yarkadas von der republikanischen Volkspartei sagte, die Anklage sei »leer wie ein Luftballon« und zerschlug sogleich einen. Ob die Schwächen der Anklageschrift den Ausgang des Prozesses bestimmen werden? In der Türkei wurden in einem Jahr 27 Prozent der Richter ausgetauscht und viele versetzt. Insbesondere hohe Gerichte sind betroffen. Den Angeklagten drohen Freiheitsstrafen bis zu 43 Jahre und Mindeststrafen nicht unter 7,5 Jahren. Außerdem könnte als Folge eines Schuldspruches auch das Vermögen der Stiftung beschlagnahmt werden. Das wäre wohl das Aus für die älteste Zeitung der Türkei.
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