Ein Jüngstes Gericht
Michail Schischkin über die Unmöglichkeit, sich von Russland zu befreien
Schon der Titel zwingt zum Nachdenken. Die geschichtsträchtige bessarabische Donaufestung Ismail, die mehrfach von den Türken besetzt und 1790 von General Suworow erobert wurde, ist ein »blindes Motiv«, das nur indirekt auf die Botschaft des Autors verweist. Das gilt auch für die Episode, in der der kleine Kostja die Festung Ismail aus Pappmaché nachbaut, sie von dressierten Mäusen einnehmen, die türkische Fahne einholen und die russische hissen lässt. Erst im Epilog wird Schischkins Anliegen deutlicher. Dort rät der sterbende Vater des Autors dem Sohn, man müsse das Leben bezwingen, es »wie eine Festung erstürmen«. Wie kompliziert das ist, erzählt der Roman, der das Leben in Russland in seiner Gesamtheit erfasst, es einem Prozess von der Dimension des Jüngsten Gerichts aussetzt, Anklage erhebt, Zeugen, Sachverständige und Verteidiger befragt, letzte Worte zulässt und mit einer Urteilsverkündung endet.
Schischkins Bild von der Kompliziertheit des Lebens knüpft an den ersten Satz von Tolstois »Anna Karenina« an: »Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.« Alle Romanfiguren Schischkins sind leidgeprüft, ganz gleich, ob sie fiktiv sind oder reale Prototypen haben. Alexander Wassiljewitsch, die fiktive Figur eines Juristen aus der Wolgastadt Simbirsk, der sein curriculum vitae auflisten soll, erinnert sich daran, wie er beide Eltern verlor, wie seine Liebesbeziehung mit der verheirateten Olga, die Ehe mit der Zoologin Katja und die Liaison mit der Sekretärin Larissa scheiterte. Seine Gerichtsreden und Vorlesungen enthalten unzählige Schreckensgeschichten, die darauf hinauslaufen, dass das Leben in Russland »nach den Gesetzen des Urwalds«, »in Dreck, Trunkenheit, Ignoranz und Finsternis« verläuft.
Reale Gestalten sind der Autor und seine Familie. Schischkins Vater, der U-Bootfahrer, der nach dem Zweiten Weltkrieg dem Alkohol verfällt, und seine Mutter, die Schuldirektorin, die wegen einer Wyssotzki-Lesung kaltgestellt wird, leben sich auseinander. Die Ehe des Autors mit Sweta endet mit der Scheidung, nachdem ihr Sohn Oleg bei einem Autounfall ums Leben kam und Sweta mehrere Suizidversuche unternahm. Michail folgt Francesca in die Schweiz, wo der gemeinsame Sohn geboren wird. Sein letzter Satz lautet: »Und immer noch weiß ich nicht, wo ich bin.«
Selten ist die Widersprüchlichkeit und Unergründlichkeit Russlands so krass dargestellt worden. Neben den tragischen Einzelschicksalen, die zwischen Alltag und Lager kaum einen Unterschied erkennen lassen, wird das Russlandbild des Romans durch unzählige Zitate aus Mythologie, Literatur, Philosophie und Geschichtsschreibung komplettiert. Unmittelbar nebeneinander stehen Autorentext, Figurenrede, Bibelstellen, Sprichwörter, »Heimliche Märchen«, Chroniken, Awwakums Autobiografie, Liebesromane des 17. Jahrhunderts, Gedichte von Kantemir bis Mandelstam und Pasternak, Schlusssätze aus Romanen, Thesen aus Traktaten Solowjows, Schestows, Rosanows und Fjodorows, Gerichtsreden und Vorlesungen des Juristen Alexander Urussow, ein NKWD-Protokoll über die Erschießung des Philosophen Gustav Speth und anderes.
Russischen Sichten wird die von Ausländern entgegengesetzt, die das Land besuchen und schmähen, wie der Franzose Astolphe de Custine. Aus unzähligen Stimmen baut sich mosaikartig ein Bild Russlands auf, verbindet sich nahtlos zu einem polyphonen »totalen Roman«, einem Buch »über die Unmöglichkeit, sich von Russland zu befreien«.
An vielen Stellen ist von der Verführung zum Schreiben die Rede. Schischkin sieht in jedem Menschen und jedem Detail des Lebens einen potenziellen Bestandteil jener »Kollektion«, die er als stoffliche Grundlage für seine Bücher braucht. Als literarische Lehrmeister nennt er Tschechow, Bunin, Nabokov, Sascha Sokolow und Alexander Goldstein, auch Joyce und die Meister des »Nouveau roman«. Für ihn ist weniger das, was er sagt, von Bedeutung, vielmehr wie es gesagt wird, also das Wort, der Stil und die Metaphorik, der schnelle Wechsel der Zeiten und der Erzählperspektive. Der Schriftsteller müsse seine eigene Sprache finden, indem er den Wörtern »ein neues Leben gibt«, den Stil zu einer handelnden Person macht, Handlungslinien durch Stilmuster ersetzt, deren Reibung die tragende Konstruktion des Romans ergibt.
Schischkin beruft sich auf den römischen Rhetoriklehrer Quintilian und den attischen Redner Hypereides. Auf dieser Basis entstand ein fundamentaler Russlandroman, den Andreas Tretner gründlich kommentiert und virtuos übertragen hat (wobei er sich nicht scheut, altrussische Texte auf Frühneuhochdeutsch wiederzugeben oder historische Sprachformen zu erfinden).
1961 in einer Kellerwohnung am Moskauer Arbat geboren, ist Michail Schischkin heute einer der bestrenommierten russischen Schriftsteller. Für »Die Eroberung von Ismail« (1996 bis 1998 in Zürich geschrieben) erhielt er 2000 den russischen Booker-Preis, für den Roman »Das Venushaar« 2005 den Preis »Nationaler Bestseller« und 2006 den Preis »Bolschaja Kniga«, für den Roman »Briefsteller« 2011 erneut den Preis »Bolschaja Kniga«. Seine Werke sind in dreißig Sprachen übersetzt. Schischkin absolvierte 1982 in Moskau ein Lehrerstudium in Deutsch und Englisch, arbeitete danach drei Jahre für die populäre Jugendzeitschrift »Rowesnik« und zehn Jahre als Lehrer an einer Moskauer Schule. 1995 heiratete er in zweiter Ehe die Schweizer Slawistin Franziska Stöcklin und ließ sich in Zürich, später in Kleinlützel (seinem kurz vor der französischen Grenze gelegenen »Jasnaja Poljana«) nieder. Er behielt seinen russischen Pass, fuhr wiederholt nach Russland und heiratete 2011 die Moskauerin Jewgenija Frolkowa. 2013 weigerte sich Schischkin, Russland auf der New Yorker BookExpo zu vertreten. Die gegenwärtige Politik Putins lehnt er entschieden ab. Er verurteilt den Krieg in der Ukraine, die Annexion der Krim, die »patriotische Massenpropaganda« und die »Großlügen« der russischen Medien.
Michail Schischkin: Die Eroberung von Ismail. Roman. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. DVA, 508 S., geb., 26,99 €.
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