»Fliegengesurre« im NSU-Prozess

Die gerichtliche Auseinandersetzung um Beate Zschäpe nähert sich dem Ende, nicht der Wahrheit

  • René Heilig
  • Lesedauer: 5 Min.

Zu Wochenbeginn erreichte die akkreditierten Journalisten mal wieder eine Pressemitteilung des Münchner Oberlandesgerichts zum »Strafverfahren gegen Beate Z. u. a. wegen Verdachts der Bildung einer terroristischen Vereinigung (NSU).« Darin sind die nächsten Verhandlungstermine bestimmt. Die Liste endet am 5. Juli 2018.

Die Umsicht ist verständlich. Seit über vier Jahren versucht man, sich einem Urteil über Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben, André Eminger, Holger Gerlach und Carsten Schultze zu nähern. Es geht unter anderem um die Morde an Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodorus Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter. Es geht um Bombenanschläge und Raubüberfälle, die eine rechtsterroristische Vereinigung verübt hat, zu der neben Beate Zschäpe Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos gehörten. Die Männer sollen sich, nach einem Banküberfall in Eisenach enttarnt, am 4. November 2011 selbst gerichtet haben.

Dienstag, 375. Sitzungstag, kurz nach 12 Uhr. Herbert Diemer, staatlicher Chefankläger, hob an zum Plädoyer. Diemer und seine beiden Kollegen sind sicher, die Anklage gegen »alle fünf Angeklagten in allen wesentlichen Punkten« sei »bestätigt«.

Hat jemand etwas anderes erwartet? Ja! Nach jahrelangen, teils intensiven Ermittlungen, nach zahlreichen detaillierten Recherchen von Journalisten und den zum Teil intensiven Nachforschungen zahlreicher parlamentarischer Untersuchungsausschüsse, die nicht wenige staatliche Vertuschungsversuche zunichte gemacht haben, hätte man von der obersten Anklagebehörde mehr erwarten können - wenn man ganz naiv rechtsstaatlichen Positionen anhängt.

Es ist kein Zufall, dass sich Bundesanwalt Diemer zunächst höchst kritisch mit Medienleuten und Politikern beschäftigte. Deren Erwartungen an den Prozess habe man nicht entsprechen können. Da gebe es strafprozessuale Grenzen, man müsse Gerüchte säuberlich von Fakten trennen. Nichts da mit »irgendwelchen Hintergründen« oder »Unterstützerkreisen«. Er wehrte sich gegen »haltlose Spekulationen selbsterklärter Experten«, sprach von »Irrlichtern« und »Fliegengesurre«. Natürlich hätten die Ermittlungen auch keine Anhaltspunkte dafür erbracht, dass staatliche Stellen in die rechtsextremistisch motivierten Verbrechen involviert waren, sie geduldet oder sie durch Unvermögen zugelassen hätten. Auf den Besucherrängen trauten viele ihren Ohren nicht!

Fliegengesurre? Bleiben wir beim Fall der 2007 in Heilbronn ermordeten Polizistin Kiesewetter, dem in Folge von Ermittlungen noch eine Reihe dubioser Selbstmorde folgte. Die Bundesanwaltschaft sagt: Böhnhardt und Mundlos hätten auf die Polizistin und ihren Streifenkollegen, der wie durch ein Wunder überlebte, geschossen. Die beiden Neonazis haben den Staat treffen wollen. Dass die Zwei-Täter-Theorie unhaltbar ist, dass die Anwesenheit von Böhnhardt und Mundlos zur Tatzeit in Heilbronn nicht belegbar ist, dass Zeugen andere Täter und Tatabläufe höchst glaubhaft geschildert haben, dass untypische Waffen benutzt wurden? Egal. Ausgeblendet. Basta!

All die Jahre haben sich die Anklage und andere Behörden gegen Aufklärungsbemühungen gestemmt. Bei wesentlichen Themen wurde Akteneinsicht abgelehnt, wurden Informationen verweigert, Zeugen benannt, die eine Schande für den Rechtsstaat sind. So simple, aber für die Rechtsfindung wesentliche Fragen, wie die Opfer ausgewählt und ausgespäht wurden, galten als nicht relevant. Der NSU wurde von Anfang an als eine isolierte Zelle von drei fanatisierten Rechtsextremisten dargestellt, die nicht einmal eine Handvoll Unterstützer hatten. Der NSU soll ein letztlich regionales Phänomen bleiben. Seine Einbettung in große Neonazisysteme wie Blood&Honour und Combat 18 ist unbequem, also unerwünscht.

Das wurde auch deutlich, als Oberstaatsanwältin Anette Greger den auf 22 Stunden angesetzten Beweismarathon fortsetzte, sagen Zuhörer. Kleinstteilig versuchte sie zu belegen, dass Beate Zschäpe innerhalb der Dreiergruppe eine zentrale Rolle innehatte und somit genau so schuldig ist wie ihre toten Freunde. Zschäpe habe das Morden gewollt und unterstützt. Die jetzt 42-Jährige sei Gründungsmitglied der terroristischen Vereinigung, keine Mitläuferin. Ihre Rolle bei der Anmietung von Wohnungen, bei der Aufrechterhaltung des biederen Scheins gegenüber Nachbarn, die Beschaffung von SIM-Karten und Telefonen, die Anmietung von Fahrzeugen und weitere Funktionen wurden detailliert aufgezählt. Sie habe die Finanzen geregelt und damit eine herausragende Stellung in der Gruppenhierarchie gehabt. Sie habe an der Bekenner-DVD, die sie nach dem Auffliegen des NSU verschickte, mitgearbeitet und so weiter.

Sorgsam umschiffte die Bundesanwaltschaft jede Klippe, auf der Verfassungsschutz steht. Und davon gibt es einige. Dass der V-Mann-Führer Andreas Temme beim Mord in Kassel unmittelbar zum Tatzeitpunkt am Tatort gewesen sein muss, wird dem Zufall zugeordnet. Die Hinweise diverser V-Leute - so die von Tino Brandt, Carsten Szczepanski, Thomas Starke und Juliane Walter – werden nach Belieben interpretiert. Verschwiegenes von V-Leuten wie Ralf Marschner aus dem NSU-Wohnort Zwickau weckt keinen Argwohn bei den Anklägern.

Den Anwälten der Nebenklage, die die Hinterbliebenen der Opfer vertreten, fiel besonders übel auf, dass die Ankläger je nach Brauchbarkeit Zeugenaussagen als glaubhaft oder unstimmig einstuften. Beweis- und Aussagewürdigung geht anderes.

Greger behauptete auch, die Gruppe habe mit ihren Straftaten jahrelang die Bevölkerung terrorisiert. So möchte man es später gern in Geschichtsbüchern lesen. Denn es verschleiert erstens den rassistischen Charakter des NSU, der sich dezidiert gegen Migranten gerichtet hat. Zweitens verschwindet dahinter der institutionelle Rassismus, der Ermittlungsbehörden in Sachen »Döner-Morde« geleitet hat. Mit der Grundeinstellung, dass »Türken eben Türken morden«, untersuchte man die bundesweiten Fälle lustlos unpolitisch und verdächtigte zudem Angehörige, Kollegen und Freunde der Opfer. Dazu hörte man kein akzeptables Wort von der Anklage.

Nach der Bundesanwaltschaft will das Gericht die Nebenkläger für deren Plädoyers aufrufen. Es könnten 50 oder mehr werden, denn als Nebenkläger registriert sind 95 Opfer oder Hinterbliebene, die von 60 Anwälten vertreten werden. Und es gibt so vieles zurechtzurücken ...

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