Mehr Protestierer als Zuschauer
Die Demonstrationen in Polen machen keinen Bogen um die World Games in Wrocław
Ab und an rückt die Politik dem Sport näher, als es ihm lieb ist. Als am Mittwochabend Hunderte Teilnehmer der World Games in der Fanzone am Wrocławer Freiheitsplatz mit den Einheimischen ihre »Athletes night« feiern wollen - zünftig mit einer Warschauer Techno-DJane und einem Londoner Dubstep-Duo, gibt es in nur 500 Meter Entfernung eine Konkurrenzveranstaltung: Vorm Rathaus protestieren mehrere Tausend Menschen gegen die umstrittene Reform des Obersten Gerichtshofes, die die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) anstrebt.
Junge und Alte sind zum pittoresken Marktplatz gekommen, sie halten Kerzen und schwenken die polnische und die EU-Fahne, sie singen Protestlieder und bejubeln die Artikel aus der polnischen Verfassung, die Schauspieler von Wrocławer Theatern auf der Bühne vorlesen. »Wolne sądy, wolni ludzie!« skandieren sie: Freie Gerichte, freie Menschen! Unter Beifall tritt Rafał Dutkiewicz ans Mikro: Der Stadtpräsident fordert die Leute auf, nicht nachzulassen in ihrem Kampf um Rechtsstaatlichkeit.
Jazzmusiker Marcin »Luter« Lutrosiński aus Wrocław begleitet die Protestreden am Piano mit seinen Improvisationen. »Wir müssen uns wehren«, sagte der 40-Jährige, »es geht um Freiheit, um Gerechtigkeit. Um Elementares - deswegen sind hier Leute aus allen Parteien, aus allen Gesellschaftsschichten dabei!«
Nur aus der polnischen World-Games-Mannschaft ist an diesem Abend, an dem in ganz Polen noch einmal Zehntausende auf den Straßen sind, niemand zum Marktplatz gekommen: Dabei umfasst das polnische Team bei den Weltspielen der nichtolympischen Sportarten immerhin 294 Sportlerinnen und Sportler, es ist das größte bei diesen Spielen.
In stattlicher Anzahl sind die Trainingsjacken mit dem roten Polska-Schriftzug hingegen im flackernden Stroboskoplicht am Freiheitsplatz zu erblicken. Dutzende polnischer World-Games-Starter stehen vor der großen Bühne, ihre Köpfe wippen im Takt der Musik: Offensichtlich ziehen Polens Sportler die Party der politischen Meinungsäußerung vor.
Dem Präsidenten der International World Games Association (IWGA), Jose Perurena López aus Spanien, ist vor allem wichtig, dass die Sportler den Protest nicht an die Wettkampfstätten tragen, wie er gegenüber »nd« versichert. »Was auf den Straßen von Wrocław passiert, ist demokratische Meinungsäußerung der Bewohner der Stadt«, sagt der Spanier, »das ist ganz normal. Bei den World Games hatten wir keinerlei politische Aktionen, weder von den Gastgebern noch von anderen.«
Für den Sport sei das gut, sagt Perurena: Wie beim großen Vorbild Olympia sollen Sportler auch in bei den World Games mit seinen 32 nichtolympischen Sportarten politische Meinungsäußerungen an den Wettkampfstätten unterlassen. Perurena, der auch Präsident der Internationalen Kanuföderation ist, lobt hingegen die Weltspiele in Polen als äußerst gelungen. »Die Zuschauerzahlen, die Sportstätten, die Wettkämpfe - all das läuft sehr, sehr positiv.« Die World Games bekämen mehr und mehr Bedeutung für die olympische Bewegung, sagt Perurena: »Künftig wird es für Sportarten, die ins olympische Programm entscheidend sein, sich hier bei den World Games gut zu präsentieren. Wir werden eine Art Testlauf sein.«
Am Freitag verwiesen die Organisatoren der Spiele auf insgesamt 153 000 verkaufte Tickets und immerhin 55 000 Besucher an den zehn Wettkampftagen. Zieht man die 26 000 Zuschauer bei der Eröffungsfeier ab, relativiert sich die erstaunlich Zuschauerzahl für Wettbewerbe wie Beachhandball, Fallschirmspringen, Boule, Orientierungslauf oder Floorball schon etwas. Rekordhalter der World Games 2017 waren bis zum Freitag die Gymnastinnen, die an einem ihrer Wettkampftage immerhin 4000 Besucher in die Jahrhunderthalle lockten. Hinter dieser stolzen Zahl allerdings relativiert sich der Zuschauerzuspruch schon auf ein schon: Erwähnenswert waren allenfalls noch noch die Kickboxer (2500 Zuschauer) oder die Sumokämpfer mit ihren 1500 Zuschauern.
Die bestbesuchten Wettkämpfe bei den mehr als 30 Sportarten stehen allerdings noch bevor: die Speedwayläufe der Motorradfahrer am Wochenende. In den Ländern des ehemaligen Ostblocks ist Speedway noch immer eine der beliebtesten Sportarten. Alle 12 000 Tickets im Olympiastadion von Wrocław sind ausverkauft.
Damit werden die Speedwayläufe übrigens die einzigen Wettbewerbe sein, die mehr Menschen angezogen haben als als die Antiregierungsproteste am Mittwoch. Nach Schätzungen der Organisatoren waren bis zu 10 000 Menschen bei den Protesten am Rathaus von Wrocław dabei.
Wie die Einheimischen demonstrieren, hat übrigens auch IWGA-Präsident Perurena beeindruckt. Er hat den Zug der Demonstranten von seinem Hotel aus beobachtet: »Die Leute sind mit Kerze in der Hand ganz leise zum Marktplatz gezogen. So eine stille Demonstration wäre bei uns in Spanien undenkbar.«
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