Reise im Nebel

Im Kino: »Helle Nächte« von Thomas Arslan

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.

Wenn alles stillsteht, dann muss man anfangen, sich zu bewegen. Ganz simpel gehen, wandern, solange, bis man nur noch den Weg vor Augen hat und die eigenen Beine spürt. Dann fängt man auch an, anders zu denken und zu fühlen, dann kann man vielleicht sogar den Krampf überwinden, der sich gerade das Leben nennt.

So ungefähr stellt Michael sich das vor. Er ist ein österreichischer Bauingenieur, der in Berlin lebt, geschieden von seiner Frau, getrennt von seinem Sohn Luis. Michael ist ein untypischer Österreicher, so untypisch wie Georg Friedrich selbst, der auf der Berlinale für seine Rolle als Vater, der versucht, sich an Dinge zu erinnern, die sein Leben hätten sein müssen, den Silbernen Bären als bester Darsteller erhielt. Friedrich, bis zum Ende der Ära Castorf einer der wichtigen Volksbühnenschauspieler, ist - jenseits von Bühne und Kamera - offenbar ein ebenso wortkarger Österreicher, einer, der sich anschickt, dem Wort »spröde« eine bislang ungekannte Wucht zu geben (Interview-Anfragen beantwortet er nicht einmal).

Reden also ist eine schlimme Zumutung. Erste Szene: ein Telefonat Michaels mit seiner Schwester. »Sie: Du rufst an, weil Du es vergessen hast? - Er: Was? - Sie: Meinen Geburtstag! - Er: Nein. Er ist gestorben. - Sie: Wer? - Er: Papa - Sie: Sieht ihm ähnlich. - Er: Was? - Sie: Sich davon zu machen.« Auf diesen lakonischen Gestus werden wir gleich am Anfang des Films herunter gekühlt. Der Vater, der zuletzt in Norwegen lebte, ist gestorben, seine Kinder reden aufreizend unberührt darüber.

Irgendjemand muss in dieser Familie nicht nur einen, sondern viele Fehler gemacht haben. Der Vater, die Kinder? Sie alle? Die Schwester jedenfalls hat keine Lust, zur Beerdigung zu fahren, also muss es Michael tun. Ungern sowieso. Also fährt er und nimmt seine Sohn Luis mit, zum ersten Mal seit Jahren will er Zeit mit seinem Sohn verbringen. Nach der Beerdigung kann man ja noch ein paar Tage durch Norwegen fahren und wandern gehen.

Arslan stimmt ein auf eine an innere Verödung grenzende Einsamkeit. In Norwegen ist es bei ihm - trotz weißer Nächte im Frühsommer - recht dunkel, es regnet immerzu, Nebel zieht über menschenleere Straßen. Wenn Vater und Sohn im Auto sitzen, dann verläuft immer eine unsichtbare Grenze zwischen ihnen. Luis (Tristan Göbel) ist verletzt, er lässt seinen Vater nicht an sich heran. Und dieser weiß nicht, wie man mit einem vierzehnjährigen Jungen redet, der noch dazu der eigene Sohn ist.

Es sind Blicke, die Arslan inszeniert, im Rückspiegel treffen sie sich keineswegs zufällig und keineswegs freundlich. Man wartet, man lauert. Vorm Fenster draußen ziehen schier unendlich weite Wälder vorüber. Das Schweigen von Vater und Sohn übertönen sehr laut die Alltagsgeräusche: das Blätterrauschen, das Atmen, das Rollen der Räder, das Zuschlagen von Türen.

Der Gestus von »Helle Nächte« ist auf strapaziöse Weise konsequent. Poesie perlt hier lange Zeit ab wie der Regen an den Fenstern des Autos. Aber irgendwann verwandelt sich etwas, man horcht anders auf die Töne, die des Regens und der Blätter und auch des Atems dessen, der neben einem sitzt. Vater und Sohn haben diese riesige Landschaft gegen sich, da müssen sie eigentlich lernen zusammen zu halten.

Eine quälend lange Reise im Nebel, von der niemand weiß, ob sie zu einem Ziel führen wird. Der Vater ist dem Sohn so fremd wie umgekehrt. Man leidet wie hinter Glas. Nicht alles Versäumte ist nachzuholen, verlorene Zeit versickert im Nirgendwo. Diese Regen-Landschaft ist jedoch auch schön, aber nicht auf den ersten Blick. Das Grün lastet schwer und dunkel vor Feuchtigkeit, niemand wird in diesem Sommer verdursten. Außer vielleicht Vater und Sohn, die hier im Auto Stunde um Stunde nebeneinander aber nie zusammen, zum ersten Mal spüren, welch ein weiter Weg es sein wird, bis sie sich vielleicht doch einmal so nahe sein werden wie Vater und Sohn.

Die Klippe ist der Schmerz, der zur Wut wird. Luis ist grob, Michael hilflos. Luis läuft weg, Michael läuft hinterher. Er holt ihn ein. Und dann? Erst die müden, zerschundene Körper geben den Widerstand auf, der Sohn liegt - einen Moment lang - im Arm des Vaters. Ein Lichtblick im Nebel, mehr nicht.

Arslan hat ein kühles Roadmovie über menschliche Entfremdung gedreht, das etwas von einer filmischen Meditation hat, bei der das Unbehagen nie ganz weichen will.

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