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Auferstehung ist möglich
Verhältnislosigkeit und Beziehungsreichtum: Gedanken zum Totensonntag
Die Toten haben kein Geheimnis. Sie sind die überwältigende Mehrheit und im Besitz einer unverrückbaren Wahrheit: gestorben zu sein. Wir gedenken ihrer, wir ersehnen, dass sie wieder reden. Wären wir ehrlich zu uns selbst, müssten wir gestehen: Sie sprechen sehr wohl mit uns, aber wir wollen nicht wirklich hören, was sie uns sagen. Sie sagen nicht viel, aber das Wesentliche: Sie sagen uns die Zukunft voraus. Sie warten auf uns, »auf der Gegenschräge«, wie Heiner Müller schreibt.
Aller Erinnerung an Gestorbene bleibt die Frage eingeschrieben: Bedenke ich beim Gedenken, ob ich wirklich – lebe? Wir sind Eingetaktete, ausgestattet mit trainierter Selbstberuhigung: Ja, ja, später ... wenn einmal Zeit sein wird, dann werde ich ... Jener Satz, es sei für das wahrhaft Lohnende nie zu spät, ist eine der bösesten Lügen. »Beginnen kannst du mit dem letzten Atemzug«, dichtet Brecht und lügt kräftig mit.
Tod bedeutet Verhältnislosigkeit, sagt die Forschung. Existenz ist demnach das schöne reiche Gegenteil: Beziehungsreichtum. Der Tod tritt daher schon früh in Erscheinung, lautlos mitunter wie der Sand einer Uhr, wir büßen ihn lebend ab. Etwa wenn Beziehungen brechen, fehlen, verwehen. Um Beziehungen zu stören, hat der Tod viele Namen: Gewöhnung, Anpassung, Selbstgewissheit, Perfektion, Gier, Geltung, Macht. Der Tod ist in diesem Kampf gegen Beziehungen ein verflucht geschickter Stückwerkmeister; Tag für Tag, Augenblick für Augenblick. Unmerklichkeit heißt seine stärkste Waffe. Aber wo Beziehungen dauern dürfen, da ist man schon weniger tot mitten im Dasein, da hat das Wort »tot« zwei eingebaute Buchstaben mehr, und wird somit zu: Trost.
Leben ist Diesseits. Und das Diesseits ist Mäßigung und Mäßigkeit, ist Ordenspflicht und Ordnungssinn; alle Schönheit limitiert, dazu diese lastende Deckungseinheit von Welt und Provinz. Da braucht es ein Jenseits, auf das man hoffen darf. Ein Leben jenseits, ja, aber doch bitte: lange vorm Tod. Leben also jenseits der uns aufgezwungenen Einsicht in den schmalen Lauf der Dinge. Gegen diese Schmalheit wehrt sich Glaube. Der Glaube daran, man könne sich das Leben nehmen. Es sich hernehmen. Es annehmen. Es mit ihm aufnehmen. Es in Anspruch nehmen. Es in Schutz nehmen.
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Lebensfreude besteht dann nicht darin, jeden Tag wie gefordert zu Ende zu bringen. Nein, Lebensfreude ist, jeden Morgen unaufgefordert, aber fordernd ein Anfänger zu bleiben. Das halte einer durch! Da bedarf es der Zuversicht. Sie kann aus dem, der ihrer bedarf, nicht herauströpfeln, sie muss dem Bedürftigen zufluten. Und keiner muss genau wissen, woher.
»Mag sein, ich liebe das Leben mehr als alle«, so Heinrich von Kleist, aber ebenso wird er notieren, dass ihm »auf Erden nicht zu helfen« sei. Und wird zur Pistole greifen. Die Liebe zum Leben, ein Leben zur Liebe hin – wie viele Beben sind auf diesem Wege möglich, wie viel an Bruch und Brennen und Bersten. Bis das Leben, das nicht mehr kann, auch nicht mehr will. Nichts mehr will, in dieser Welt, von dieser Welt. Und plötzlich klingt hart, was doch oft so befreiend klingt: Ein Mensch macht sich auf – und davon.
Manchmal erfolgt Flucht aus bitter eigenem Antrieb. Jessenin und Toller, Tucholsky und Inge Müller, Majakowski und Levi. Es gibt kein Gesetz, keine Satzung mehr, wenn die Angst, die Obsession, der Wund- und Grundschmerz dich über alle Grenzen treiben, wenn die Sehnsucht nach Souveränität als Einladung zum Sterben nach dir greift. Wenn also dieser eiskalte Doktor Faust in dir und dieser Herrenmensch Raskolnikow in dir und Joseph Conrads Marlowe in dir und der gedemütigte Jesus in dir, wenn sie alle jenes Herz der Finsternis in dir – das kein Kardiologe attestieren kann – mit Stoff versorgen. Ein Stoff, der die Selbsterhebung und die Selbstauflösung zusammenführt. Den Mut und das Matte. Freitod ist Freiheit? Sage keiner, das sei fürs eigene Leben undenkbar. Traue keiner seinem Herzschlag der Biederkeit, seinen Temperaturen des Ebenmaßes, seinem Einverständnis mit der Knechtschaft des Alltags. In jedem Menschen lauert ein Infarkt auf seine Stunde.
Immer wieder hat es Dichter gegeben, die versuchten, den Übergang zum Tod zu beschreiben: »Und ein Stein zwischen Steinen, ging er in der Freude seines Herzens wieder in die Wahrheit der unbeweglichen Welten ein« (Albert Camus). Ja, ja, sagen die Aufgeklärten und wiederholen gern den fühllosen Satz, der Tod gehöre nun mal, ganz natürlich, zum Leben. Der Satz ist eine Infamie, wie fast jede Wahrheit. Martin Walser: »Sage einer diesen Satz doch bitteschön laut und heiter und einverstanden, wenn er die Sonne sieht, die Wolken, den Schnee, ein geliebtes Gesicht, das lebendige Treiben, die Kindeskinder oder sich selber in gemütsstärkendem Tun!« Nein, da hilft keine Vernunft: Der Tod komme als Feind zu uns, sagte Elias Canetti. Sterben zu müssen, das bleibt neben jener Unumstößlichkeit, dass der Mensch mit Lebensbeginn unrettbar schuldig wird, der einzig wirkliche Skandal, den es gibt!
Auf Friedhöfen glauben wir ein ganz klein wenig ans Undenkbare: verschont zu bleiben. Es ist ein Glaube aus reiner Not, nichts ändern zu können, denn: Du bist nicht unsterblich, nur weil du dich unsterblich verlieben darfst. Aber Not ist der Geburtshelfer für diese schönste Beschäftigung: zu glauben. Beispiele? Wo die Not am größten ist, ist der Glaube an die bessere Welt am kräftigsten, am ehrlichsten wohl auch. Wo die Einsamkeit am ärgsten ist, malt der Glaube an Zweisamkeit die tollsten Bilder. Fünf vor zwölf schlägt die feurigste Stunde der Utopien. Wo Schuld dich am heftigsten plagt, möchtest du ebenso heftigst daran glauben, Unschuld sei wieder möglich. Wir glauben, was nicht ist. Auf diese Weise ist es. Obwohl es vielleicht niemals wird. Möglich ist nur immer Lösung, statt Erlösung; Heilung statt Heil; Befriedung statt Frieden. Und so glauben wir auch am innigsten ans Leben, wo uns seine gnadenlose Kürze und Unwiederholbarkeit bewusst wird.
Irgendwann wird offenbar, wie viele Tode man im Lauf der Jahre gestorben ist und welche kleinen Auferstehungsschritte zu sich selbst man verweigert, verpasst oder aufgeschoben hat. Auferstehung? Ja. Indem man sich an die Lust heranlebt, nicht mehr überall dabeizustehen, nicht mehr an jedem Angebotsort anzustehen, nicht mehr alles durchstehen und nicht mehr irgendjemandem vorstehen zu wollen. Die Dinge sich setzen lassen, das ist Auferstehung. Loslassen ist: die falschen Anstrengungen sterben lassen – im Dienst des (verbleibenden) Lebens.
Totensonntag. Danach beginnt eine neue Woche. Die Kraft des Todes, uns Tränen zu entlocken, trifft sich dann wieder mit dem Angebot des Lebens, sie zu trocknen.
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