Tag der Attacken
Niedersachsens Landtag bereitet Auflösung vor
»Mäßigen sie sich - kein Wort mehr!« So musste Landtagspräsident Bernd Busemann (CDU) Politiker aller Fraktionen zur Ruhe rufen. Lange waren nicht so viele, so laute Zwischenrufe durchs Niedersachsenparlament getönt wie am Donnerstag. In wenigen Minuten hätte die Sondersitzung zu Ende sein können, stand doch allein der Antrag auf Auflösung des Landtages auf der Tagesordnung. Aus rechtlichen Gründen wäre eine Debatte nicht nötig gewesen, doch die Parlamentarier nutzten die Stunde zu teils heftigen gegenseitigen Attacken. Im Schussfeld standen dabei vor allem Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) und die von den Grünen zur CDU übergelaufene Abgeordnete Elke Twesten.
Besonders hart ins Gebet nahm SPD-Fraktionschefin Johanne Modder die Abtrünnige, hielt ihr entgegen: »Ich fürchte, Sie haben ihren inneren moralischen Kompass verloren.« De jure sei der Wechsel, der die rot-grüne Einstimmenmehrheit beendete, zwar legal, aber »nicht alles, was legal ist, ist auch legitim«, mahnte Modder, und: Die Menschen im Land interessiere im Zusammenhang mit dem Wechsel vor allem die Frage: »Was für ein Preis wurde gezahlt?«
Dieser Frage widmete sich auch der Ministerpräsident. Weniger direkt, aber dennoch deutlich. Viele Menschen, so Weil, seien angesichts Twestens Wechsel irritiert und nähmen »das böse Wort von unmoralischen Angeboten« in den Mund. »Hintergründe« des Geschehens werfen viele Fragen auf, und diese müssten beantwortet werden, forderte der Regierungschef. Für ihn gehe es im Kern der Sache um den Grundsatz: Die Mehrheit eines Parlaments darf nur von den Wählerinnen und Wählern bestimmt werden. Von ihnen habe Twesten ihren politischen Auftrag bekommen, diesen Wählerwillen aber nun verletzt. Besonders verletzt hat die jetzt zur CDU zählende Abgeordnete ihre bisherige Partei - und auch überrascht. Zitierte doch Grünen-Fraktionsvorsitzende Anja Piel aus einer Zeitung vom Juni einige Worte Elke Twestens, zum Beispiel die Aussage: In puncto Frieden und Umweltschutz »wird keine andere Partei aktuell so sehr gebraucht wie die Grünen«.
Ihnen und der SPD schlug CDU-Fraktionschef Björn Thümler gleich ein ganzes Sündenregister um die Ohren. Genossenfilz präge die Regierung Weil, die zu Beginn ihrer Amtszeit fleißiges »Anpacken« versprochen, sich aber dann durch »Liegenlassen und Spätermachen« ausgezeichnet habe. Für eine mangelhafte Unterrichtsversorgung an Niedersachsens Schulen sei Rot-Grün ebenso verantwortlich wie für einen mangelhaften Schutz »vor Chaoten, welche die Krawalle auch in Hamburg herbeigeführt haben«, so zwei Beispiele aus Thümlers Philippika.
Zu mehreren Prozessen vor dem Staatsgerichtshof geführt habe die Ignoranz der Weil-Regierung gegenüber parlamentarischen Grundrechten, erinnerte Stefan Birkner, Vorsitzender der FDP im Landtag. So habe die Opposition beispielsweise klagen müssen, um Einsicht in wichtige Akten zu bekommen und Untersuchungsausschüsse einzusetzen. Auch das gehöre zur »miserablen Bilanz« dieser Regierung, die von ihrem Unvermögen jetzt mit einer »verbalen Hetzjagd auf Elke Twesten« ablenken wolle.
Eine solche Hetze, ergänzte CDU-Parlamentsgeschäftsführer Jens Nacke, habe besonders in sozialen Netzwerken inakzeptable Ausmaße angenommen. Anonyme Schreiber attackierten die Abgeordnete dort mit sexistischen Anwürfen, mit Todesdrohungen, etwa, sie gehöre »in die Gaskammer«. Es sei verharmlosend, so Nacke, wenn die SPD mit Blick auf Kritik an Twesten nur von »einer Welle der Empörung« spreche.
In der nächsten Woche wird der Landtag ein vorletztes Mal zusammenkommen, um noch einige wichtige Gesetze auf den Weg zu bringen. Am 21. August beschließt er sodann seine Auflösung.
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