Morgen früh, wenn Gott will
Zwischen Traum und Wirklichkeit: Das Wilhelm-Busch-Museum Hannover zeigt die Ausstellung »Füsslis Nachtmahr«
Dürfen die Musen singen, wenn die Welt im Argen liegt? Diese künstlerische Theodizeefrage kam nicht erst mit dem effektvollen Poltern der 68er gegen die Dichtung auf. Schon der junge Hugo von Hofmannsthal trug das Problem am Ende des 19. Jahrhunderts poetisch mit sich herum: »Manche freilich müssen drunten sterben, / Wo die schweren Ruder der Schiffe streifen. / Andere wohnen bei dem Steuer droben, / Kennen den Vogelflug und die Länder der Sterne.« Erste Ausläufer des Gedankens, das Trällern der Nachtigall vertrüge sich nicht mit dem Jammer der Erde, finden sich sogar noch früher. Als am Ende des 18. Jahrhunderts die Romantik zur Fortsetzung der Religion mit ästhetischen Mitteln avancierte, da geriet die politische Realität mit deren poetischer Erhöhung zwangsläufig in Konflikt.
Politik muss den Schmerz lindern oder verhindern, die Romantik sucht Intensität in Sehnsuchtsschmerz und Melancholie. Was Kunstverächter bis heute übersehen: Wo Politik die komplexen Gefühle des Menschen nicht zum Ausdruck bringen darf, da findet die Romantik ihre Nische. Das hält sie bis heute präsent. Warum sonst gehört »Der Wanderer über dem Nebelmeer« (1818) von Caspar David Friedrich zu den bekanntesten Gemälden der deutschen Kunstgeschichte? Der in Rückenansicht vorgeführte und auf seinen Stock gestützte Mann ist mit seinem Blick vom felsigen Gipfel über den dichten Nebel wegen seiner Symbolhaftigkeit heute ein gängiges Werbemotiv. Sobald das Schicksal Deutschlands mal wieder auf dem Spiel zu stehen scheint, kramt irgendwer dieses Motiv in ironischer oder ernsthafter Absicht hervor.
Das hat dem Stellenwert der Romantik unter Linken nicht gutgetan. Jenseits dieser sich nah am Kitsch bewegenden Tagseite hat diese Geistesströmung aber auch eine Nachtseite, die das Deutsche Museum für Karikatur und Zeichenkunst in Hannover jetzt neu zur Geltung bringt. Im Zentrum der Ausstellung steht ein fast 30 Jahre vor Friedrichs Sentimentalitätsbild entstandenes Gemälde, das dem romantischen Programm der Zusammenführung von menschlichem Traum und kosmischer Wahrheit auf die Spur kommt: »Der Nachtmahr« von Johann Heinrich Füssli. »Zu den am wenigsten erforschten Bereichen der Kunst zählen die Träume«, schrieb der Schweizer Maler einmal. Die Aufklärung, fand er, habe lange genug die Vernunft gefeiert. Zum Menschen gehöre auch der Blick in die unbewuss-ten Abgründe des Herzens.
Sein »Nachtmahr« existiert in drei Versionen. In Detroit hängt die düsterste, eine weitere befindet sich in Privatbesitz. Die unterschwelligste Ausführung gehört dem Goethehaus Frankfurt am Main, das dem Werk eine Reise nach Hannover ermöglicht hat. In der Szenerie sitzt ein grinsender Dämon auf dem Leib einer mit geschlossenen Augen den Kopf und die Arme über den Rand ihrer Schlafstätte werfenden Frau. Dahinter starrt ein geisterhaftes Pferd mit seelenlosen Augen auf die Schöne.
Wer dieses Bild betrachtet, der fühlt zugleich Unbehagen und Überwältigung, Schauer und Zärtlichkeit. Ob die Frau tot ist oder lebendig, ob sie sexuell erregt oder in Angst erstarrt ist, das erscheint ebenso rätselhaft wie die Absichten der beiden Fabelwesen.
Die atmosphärische Ungewissheit ist ein Leitmotiv der Hannoveraner Schau. Sie zeigt, wie Füsslis Werk die Kultur des Spuks beeinflusst hat. Neben weiteren Bildern aus dem wilden Schaffen Füsslis, unter denen das zauberhafte »Queen Lab« (1814) besonders hervorsticht, präsentiert die Ausstellung zahlreiche Karikaturen, die das Nachtmahr-Motiv enthalten. Vor sich hindämmernde Frauen sind da überwiegend zu sehen, auf Traumpfaden unterwegs, Geschöpfen aus fantastischen Sphären ausgeliefert.
Auch die Medien des Films (bis hin zur sehenswerten Low-Budget-Produktion »Der Nachtmahr« von Akiz aus dem Jahr 2016) und der Literatur sind berücksichtigt. Bücherreihen offenbaren, wie wichtig der Mythos des nächtlichen Albs sich durch die Historie des geschriebenen Wortes zieht. Vertreten sind Genreklassiker von Dante über Shakespeare bis zur »Frankenstein«-Autorin Mary Shelley, die 1818 im besten aller Horror-Romane diese Sätze schrieb, die eine ganz bestimmte Inspirationsquelle nahelegen: »Dort lag sie, quer über das Bett, leblos und bleich. Ihr Haupt hing hinab und ihr Haar bedeckte zum Teil ihr verzerrtes Antlitz.« Der Mensch mag unablässig technischen Fortschritt erlangen. Er bleibt dennoch den Gesetzen des bestirnten Himmels über ihm und dem lauernden Abgrund in ihm unterworfen. Er muss die Grenzen der Kontrolle akzeptieren, so wie es in dem unheimlichen und beruhigenden Kinderlied aus dem 19. Jahrhundert anklingt: »Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.«
Der Blick in die Gegenwart fällt da nicht schwer. Wesen aus der Schattenwelt verkörpern gerade heutzutage eine Entzauberung des Übersinnlichen, indem sie das Magische realisieren. Frankensteins Monster entsteht nicht durch zu wenig, sondern durch zu viel und falsch eingesetztes Wissen, so wie Einstein einst über die Wirkung der durch ihn miterfundenen Atombombe erschrak. Zombies sind aus Laboren entkommene Versuchskaninchen. Vampire erfüllen Menschen den Traum von der Unsterblichkeit, berauben sie aber auch ihres Lebensgeistes - sie sind reduziert auf roboterhaftes Funktionieren wie der »Homo Oeconomicus« im Menschenbild des Neoliberalismus. Darin steckt die Macht der Romantik. Wenn am Ende aller Sehnsucht die Enttäuschung wartet, dann verzichtet der Romantiker nicht auf seine Wünsche. Er begnügt sich aber auch nicht mit dem Schmachten, das den Verzicht auf die Erfüllung ja schon in sich trägt. Ihm geht es am Ende um etwas sehr Erstrebenswertes: das nicht mehr nur vernunft- und effizienzgetriebene Individuum.
»Füsslis Nachtmahr: Traum und Wirklichkeit«, bis zum 15. Oktober im Wilhelm Busch - Deutsches Museum für Karikatur & Zeichenkunst, Georgengarten, Hannover
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