Provokationen und Leisetreterei
Bürger von fünf EU-Mitgliedsländern sind in den vergangenen Wochen in der Türkei verhaftet oder verurteilt worden / Europa schaut weitgehend hilflos zu
Vor sechs Monaten, am 14. Februar, stellte sich der deutsche Journalist und Türkei-Korrespondent der »Welt«, Deniz Yücel, auf einer Istanbuler Polizeiwache. Seitdem sitzt er in Untersuchungshaft - diese kann bis zu fünf Jahre dauern. Yücel ist kein Einzelfall, sondern Teil einer Verhaftungsserie, die sich zuerst gegen türkische Oppositionelle und Journalisten richtet, aber zunehmend auch ausländische Staatsbürger trifft.
Bürger von mindestens fünf EU-Mitgliedsländern sitzen inzwischen in türkischen Gefängnissen wegen des Vorwurfs der Terrorunterstützung, viele von ihnen sind Journalisten. Die Reaktionen der EU-Staaten wirken hilf- und wirkungslos. Manche kooperieren auch mit der Türkei, wie der aktuelle Fall des schwedisch-türkischen Journalisten Hamza Yalcin zeigt, den die spanischen Behörden auf Geheiß der Türkei festgenommen haben.
Fast eine Woche nach der Verhaftung Yalcins am Flughafen von Barcelona erklärte das schwedische Außenministerium, man habe für anwaltliche Betreuung gesorgt und versuche, einen Besuch im Gefängnis zu arrangieren. Die schwedische Regierung reagierte bislang im Fall Yalcin so zurückhaltend, dass die Tageszeitung »Aftonbladet« angesichts der Verhaftung des Doppelstaatlers forderte, Schweden müsse »ebenso hart gegen Erdogan vorgehen wie Deutschland«.
In der Tat hat die deutsche Bundesregierung den Ton gegenüber Ankara nach der Verhaftung Peter Steudtners verschärft. Zudem verhandelt sie eigenen Angaben zufolge im Hintergrund über die Freilassung der Inhaftierten. Doch auch sie steht den Provokationen des Erdogan-Regimes recht hilflos gegenüber. »Wir werden alles tun auf allen Ebenen«, hatte Angela Merkel über die Bemühungen der Regierung im Fall Yücel gesagt. Wirkung hatte das bisher nicht.
Weit weg scheint derzeit auch ein gemeinsames Vorgehen der EU-Staaten gegen die Verhaftungen in der Türkei. Ein solches »internationales Einschreiten« hatte Amnesty International nach der Verhaftung Peter Steudtners gefordert, um einen »Dominoeffekt« - also weitere Verhaftungen - zu verhindern. Zu denen ist es nun gekommen.
Ganz neu ist die Verfolgung nicht. Auch vor dem Putschversuch im Juli 2016 gab es einzelne ähnliche Fälle: Die niederländische Journalistin Frederike Geerdink wurde im April 2015 in einem Prozess vom Vorwurf der PKK-Propaganda freigesprochen. Der Fall sorgte damals über die Grenzen der Türkei hinweg für Aufsehen. Freigelassen wurde auch der italienische Journalist Gabriele Del Grande, der im April 2017 verhaftet worden war.
So wie aber der Takt von Massenverhaftungen türkischer Bürger immer enger wird, mehren sich die Verhaftungsfälle von EU-Ausländern. Besonders im Fokus stehen dabei Journalisten. Seit einigen Tagen wird der bisher unbehelligt gebliebenen Korrespondent der »Berliner Zeitung«, Frank Nordhausen, von regierungsnahen Blättern in der Türkei an den Pranger gestellt. Er sei der »neue Yücel« und ein »Agent«, schrieb die Tageszeitung »Aksam« gleich mehrfach auf ihrer Titelseite.
Politisch ist die Distanz zwischen Ankara und Berlin gewachsen - stärker noch als zwischen der EU-Kommission und der Türkei. Wirtschaftlich ist die Beziehung nach wie vor eng, auch wenn Unternehmen zum Teil verunsichert auf die Lage in der Türkei reagieren. Gerade erst hat Siemens einen Windräder-Großauftrag in der Türkei erhalten. Für die EU, die deutsche Regierung und die Türkei wäre das - politische Distanz bei weiterhin enger ökonomischer Kooperation - eigentlich ein denkbarer Weg in die Zukunft. Erdogan braucht aber auch die Provokationen in Richtung Westen, um den starken Mann zu markieren und die Verheißung eines neuen »osmanischen« Herrschaftsanspruches mit solcherart Kraftgebärden wenigstens nach innen am Leben zu erhalten.
Besonders jene EU-Länder, in denen es eine starke türkeistämmige Diaspora gibt, bringt das zunehmend in die Bredouille. Denn die Möglichkeiten, Druck auf die Türkei auszuüben ohne die wirtschaftlichen Beziehungen oder den »Flüchtlingsdeal« anzutasten, sind begrenzt. Zugleich wächst mit jeder Verhaftung das öffentliche Unverständnis über die Leisetreterei.
Unrealistisch ist, dass nun all jene, die potenziell gefährdet sind, nicht mehr in die Türkei reisen werden. Dass 1,5 Millionen Deutschtürken keinen deutschen Pass besitzen und damit keinen Anspruch auf konsularische Betreuung durch die Bundesrepublik haben, verkompliziert die Sache zusätzlich. Einen Präzedenzfall gibt es hier bereits: Den des seit 40 Jahren in Deutschland lebenden Kadim D., der in der Türkei Urlaub machen wollte und wegen eines angeblichen Facebook-Eintrages Ende Juli festgenommen wurde. Das Auswärtige Amt erklärte sich für nicht zuständig.
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