Erdogans EU-Gefangene

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 6 Min.

Vor einem halben Jahr wurde mit Deniz Yücel der erste deutsche Journalist nach dem Putschversuch vom Juli 2016 in der Türkei in Haft genommen, Ende April folgte die Übersetzerin Mesale Tolu. Seit einigen Wochen häufen sich wiederum Verhaftungen, inzwischen sitzen Bürger von mindestens fünf EU-Staaten in türkischen Gefängnissen.

Ali Gharavi, Schweden

Der IT-Berater Ali Gharavi nahm Anfang Juli an einem Workshop von Amnesty International in der Nähe von Istanbul teil. Polizisten nahmen ihn sowie weitere Amnesty-Mitarbeiter fest. Gharavi, Jahrgang 1967, besitzt die schwedische und iranische Staatsangehörigkeit. Vorgeworfen werden ihm »Unterstützung einer Terrororganisation« und »Spionage«. Der studierte Elektrotechniker arbeitete als technischer Berater für eine Reihe von Menschenrechts- und Entwicklungsorganisationen. Er spielte eine wichtige Rolle dabei, die Nutzung von Informationstechnologie durch NGOs zu professionalisieren. Der IT-Experte wurde Anfang August in das Hochsicherheitsgefängnis bei Silivri überstellt. Seine Frau Laressa Dickey darf bislang nicht mit ihm sprechen.

Joe Robinson, Großbritannien

Der Brite Joe Robinson machte mit seiner Freundin und ihrer Mutter in einem Ferienressort nahe der Stadt Didim Urlaub. Polizisten nahmen den 24-Jährigen dort Ende Juli fest. Die türkische Justiz wirft dem Afghanistan-Veteranen vor, ein Mitglied der syrisch-kurdischen Miliz YPG zu sein. Vermeintliche Beweise sind Fotos, die den Soldaten in kurdischer Uniform zeigen. Robinson hatte sich nach eigenen Angaben von November 2015 bis Frühjahr 2016 als Sanitäter für die YPG engagiert. Nach seiner Rückkehr wurde in Großbritannien gegen ihn ermittelt, alle Verfahren sind dort mittlerweile eingestellt worden. Robinsons Eltern erklärten gegenüber Medien, dass sie weder etwas von einem Gerichtstermin noch von einer konkreten Anklage wissen.

Deniz Yücel, Deutschland

Deniz Yücel befindet sich seit Mitte Februar ohne Anklage und Verfahren in türkischer Untersuchungshaft. Dem in Flörsheim am Main geborenen 43-jährigen Korrespondenten der »Welt« werden »Terrorpropaganda« und »Aufwiegelung der Bevölkerung« vorgeworfen. Vermeintliche Beweise sind ein Interview, das er mit dem PKK-Kommandanten Cemil Bayik geführt hat, sowie Texte, in denen Yücel die Verantwortung der Gülen-Bewegung für den Putschversuch vom Juli 2016 in Frage stellt. Erst im April durfte ein deutscher Diplomat den ehemaligen Mitarbeiter von »taz« und »Jungle World« im Gefängnis besuchen. Nach einer Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte forderte dieser die Türkei auf, bis Oktober eine Stellungnahme abzugeben.

Özel Sögüt und mindestens vier Unbekannte, Deutschland

Der in Siegen lebende Unternehmer Özel Sügüt verkaufte unter anderem Solaranlagen und pendelte regelmäßig zwischen der Türkei und Deutschland. Die türkische Polizei nahm den deutschen Staatsbürger im Dezember 2016 fest. Ihm wird vorgeworfen, ein Anhänger des islamischen Predigers Fethullah Gülen zu sein; Sügüts Ehefrau bestreitet dies. Medienberichten zufolge soll der Geschäftsmann eine Solaranlage an einen Gülen-Anhänger verkauft und laut seiner Frau einen Kredit von einem Gülen-Unterstützer erhalten haben. Sein Prozess wurde von ursprünglich Juli auf Ende September vertagt. Sögüt sitzt nicht mehr im Gefängnis, darf aber die Türkei nicht verlassen. Neben Sögüt, Tolu, Yücel und Steudtner gibt es mindestens vier weitere Deutsche, die nach dem Putschversuch verhaftet wurden und deren Namen nicht bekannt sind.

Hamza Yalcin, Schweden

Der Journalist und Autor Hamza Yalcin wollte von Spanien nach England fliegen. Bei einer Ausweiskontrolle in Barcelona wurde der schwedische und türkische Staatsangehörige festgenommen. Die Türkei hatte über Interpol ein internationales Fahndungsersuchen auf den 59-Jährigen ausgestellt. Laut Medienberichten werfen die türkische Behörden Yalcin »terroristische Propaganda« sowie Beleidigung des Staatspräsidenten Erdogan vor. Nach Angaben der türkischen Nachrichtenagentur Dogan soll der Journalist zudem »terroristische Beziehungen« zur verbotenen linksradikalen Revolutionären Volksbefreiungsfront (DHKP) unterhalten. Ende der 1970er Jahre wurde Yalcin in der Türkei das erste Mal wegen Mitgliedschaft in der DHKP für einige Monate festgenommen. 1984 konnte er nach Schweden fliehen, wo er politisches Asyl beantragte. In dem skandinavischen Land schrieb er für die türkische Oppositionszeitung »Odak Dergisi«. Die Türkei hat nun bis Anfang September Zeit, gegenüber den spanischen Behörden ihr Auslieferungsbegehren zu begründen. In letzter Instanz entscheidet die spanische Regierung.

Loup Bureau, Frankreich

Der französische Journalist Loup Bureau befand sich auf dem Rückweg aus dem Irak, als die türkische Polizei den freien Mitarbeiter des französischen Fernsehsenders TV5 Mitte Juli in der südöstlichen türkischen Provinz Sirnak festnahm. Bei einer Durchsuchung an einem Checkpoint fanden Polizisten Videos und Fotos von einem Besuch des Reporters in Syrisch-Kurdistan (Rojava). Bureau hatte 2013 für TV5 eine Dokumentation über den Kampf der dortigen Kurden gegen den IS gedreht. Dem Journalisten wird vorgeworfen, ein Unterstützer der YPG zu sein. Der 27-Jährige befindet sich noch in der Ausbildung, hatte aber bereits aus Ägypten, der Ukraine und Pakistan berichtet. Bureau wartet im Gefängnis auf seine Anklage.

Peter Steudtner, Deutschland

Der deutsche Menschenrechtler Peter Steudtner nahm im Juli an einem Workshop von Amnesty International auf der Insel Büyükada in der Nähe von Istanbul teil. Als Seminarleiter sollte er über Stress- und Traumabewältigung sowie digitale Sicherheit referieren. Mit fünf anderen wurde er verhaftet; ihm werden »Unterstützung einer Terrororganisation« und »Spionage« vorgeworfen. Die Vorwürfe beziehen sich vor allem auf das Tagungshotel, in dem früher angeblich Unterstützer des Putschversuches konspiriert hätten. Der 45-jährige Politologe und Fotograf ist seit vielen Jahren Experte für gewaltfreie Konfliktbearbeitung und Ausbilder für Menschenrechtsorganisationen. Derzeit befindet er sich im Hochsicherheitsgefängnis bei Silivri.

Marketa Vselichova und Miroslav Farkas, Tschechische Republik

Ein türkisches Gericht hat die Tschechen Marketa Vselichova und Miroslav Farkas Anfang August zu sechs Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt. Beiden wird vorgeworfen, Mitglieder der syrisch-kurdischen Miliz YPG zu sein. Die 24-jährige Studentin Vselichova und der 30-jährige Farkas hatten dagegen erklärt, sie hätten im Nordirak beim Aufbau eines Feldlazaretts helfen wollen. Sie wurden im November vergangenen Jahres in der Türkei festgenommen. Laut tschechischen Medien gab es während der Gerichtsverhandlung keine Übersetzung. Diplomaten aus Prag sollen beiden empfohlen haben, in Berufung zu gehen. Vselichova und Farkas befinden sich in einem Gefängnis in der Stadt Van.

Mesale Tolu, Deutschland

Mesale Tolu ist Übersetzerin und arbeitete für die linke Nachrichtenagentur Etha. Die deutsche Staatsbürgerin pendelte regelmäßig zwischen ihrem Wohnort Neu-Ulm und der Türkei. Eine Antiterror-Einheit hatte die Journalistin Ende April vor den Augen ihres zweijährigen Sohnes in Istanbul festgenommen. Ihr werden »Terrorpropaganda« und »Mitgliedschaft in einer Terrororganisation« vorgeworfen. Laut ihren Anwälten gelten als vermeintlichen Beweise, dass sie die Beerdigung von Mitgliedern der linksradikalen MLKP sowie eine Trauerkundgebung für eine in Syrien getötete deutsche YPG-Kämpferin besucht haben soll. Tolu erklärte, über die Veranstaltung berichtet zu haben. Der Prozess gegen Tolu beginnt am 11. Oktober; der Staatsanwalt fordert 15 Jahre Haft.

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