Sechs Tage, drei Länder und eine Zeitreise im Sattel

Vom Faaker See in Österreich über Slowenien nach Triest in Italien. Von Thorsten Brönner

  • Thorsten Brönner
  • Lesedauer: 6 Min.

Unsere Stimmung kippt von einem Moment auf den nächsten. Nicht deshalb, weil zerzauste Wolken bedrohlich an den Bergen kleben. Auch nicht, weil sich voraus der Werschitzpass mit seinen 24 Haarnadelkurven aufbaut. Der Auslöser für den plötzlichen Gefühlswechsel liegt rund 100 Jahre zurück.

Gerade sind wir in den slowenischen Nationalpark Triglav hineingefahren. Nun hat unser Reiseleiter tief im Bergwald sein Mountainbike gestoppt. Hans, unser Guide, Mitte sechzig, Vollbart und kurze weiße Haare, lenkt die Aufmerksamkeit der Bikergruppe auf eine hölzerne Kapelle und erzählt: »Während des Ersten Weltkriegs quälten sich 10 000 russische Gefangene beim Bau der Militärstraße ab. Im März 1916 donnerte eine Lawine zu Tal, begrub über 100 Soldaten. Im Jahr darauf errichtete man in Erinnerung an die Opfer diese Kirche.«

Die Einheimischen nennen sie Ruska kapelica, Russenkapelle. Der Bau mit seinen sonnenverbrannten Holzschindeln und den zwei Zwiebeltürmen mit den Kreuzen der russisch-orthodoxen Kirche steht offen. Daneben weiden friedlich Kühe auf der Wiese. Hier und jetzt wird den meisten in der Gruppe bewusst, wo wir uns befinden. Denn von 1915 bis 1918 verlief in den Julischen Alpen eine der blutigsten Fronten des Ersten Weltkriegs - Österreich-Ungarn gegen Italien. Entlang dieser Linie führt unsere Radtour.

Gestern sind wir am Nordufer des Faaker Sees in Österreich in den Sattel gestiegen - drei Frauen, zehn Männer. Bis zum Reiseziel Triest sind 8000 Höhenmeter zu überwinden, verteilt auf fast 300 Kilometer Strecke in drei Ländern: Österreich, Slowenien und Italien.

Nachdem wir uns die Kirche in den Bergen angesehen haben, steigen wir wieder auf die Bikes, holpern weiter bergan. Auf Slowenisch heißt der 1611 Meter hohe Übergang Vršič-Pass. Oben legen wir eine Rast in der urigen Berghütte Ticarjev Dom ein. Als wir gestärkt ins Freie treten, schälen sich ringsum die Bergriesen aus den Wolken. Ihre Namen hören sich an wie Bösewichte aus einem Hollywoodfilm: Prisojnik, Razor und Triglav. Letzterer ist der König der Julischen Alpen, 2864 Meter hoch.

Mitten durch diese Kulisse führt die Südrampe mit kühn angelegten Serpentinen talwärts, 1400 Höhenmeter abwärts. Wir lassen es laufen. Der Fahrtwind pfeift uns um die Ohren, kitzelt auf der Haut. Die Straße kreuzt einen reißenden Bach. Es ist die noch junge Soča. Der Fluss sprudelt hier im Nationalpark aus einer Karstquelle hervor.

Türkisfarben zieht sich die Soča durch ihr felsiges Bett. Auf ihrer 136 Kilometer langen Reise vollführt sie mehrere Richtungswechsel, bevor sie in den Golf von Triest mündet. Die Italiener nennen den heute bei Paddlern beliebten Gebirgsfluss Isonzo. Der Name grub sich tief ins Bewusstsein der Nation ein, erinnert er doch an die Niederlage im Herbst 1917. Wie bewegend das Trauma einst war, wird uns Hans übermorgen zeigen.

Das dritte Teilstück beginnt in Bovec. Längst haben wir die Trittfrequenz an die Gebirgsszenerie angepasst. Vor dem Lenker entfaltet Slowenien seine Pracht: Wir folgen der Soča, zittern uns über Hängebrücken und erklimmen den Berg Stol. Er steht exponiert und war im Ersten Weltkrieg von strategischer Bedeutung. Am Nordhang führt eine Militärstraße in die Höhe.

Heute regnet es. Unsere Stollenreifen schlittern über den rutschigen Schotter. Jeder friert und ist patschnass. Als wir am Nachmittag die heimelige Herberge Hiša Franko erreichen, muffelt die Kleidung nach nassem Hund. Und doch sind wir in Hochstimmung. Aber die bekommt in Kobarid einen Dämpfer.

Die Österreicher nannten den Ort Karfreit; die Italiener Caporetto. Hans lotst uns ins Kobariški muzej, das Kobarid Museum. Die Atmosphäre ist bedrückend. Der Gebirgskrieg tobte zwischen dem Stilfser Joch an der Schweizer Grenze und der Adria westlich von Triest. Schmerzliche Berühmtheit erlangten die zwölf Isonzoschlachten. Ein Film zeigt die Ereignisse: zweieinhalb Jahre Krieg auf zwanzig Minuten zusammengepresst. Es folgen Dokumente, angerostete Waffen, dazu erschreckende Fotos. Der Soldat in allen Lebenslagen - als lachender Kamerad, als mordender Kämpfer, als verwundeter Krüppel.

Wir suchen Zerstreuung. Hans kennt das von den Gruppen, die er bereits durch die Region begleitet hat, und radelt mit uns zur Sočabrücke. Das dahineilende Wasser umspült graue, moosbepackte Felsen, plätschert, schäumt und strudelt. Was für ein fantastischer Fluss! Wir starren in das satt türkise Wasser und vertrauen der Soča die Gedanken an. Der Fluss wird uns gen Süden mitnehmen, Richtung Italien. In zwei Tagen möchten wir über die Grenze rollen, einfach so - vor 100 Jahren wäre das undenkbar gewesen.

Auf dem fünften Teilstück führt die Reise hinter Most na Soči in das Karstgebiet. Es ist die letzte Barriere vor dem Mittelmeer. Das Höhenprofil der Tour gleicht einem Aktienkurs: rauf, runter. Dazwischen kurze Flachpassagen. Nun steht der nächste Ausschlag an. Das Sträßchen mit der Nummer 609 steigt in die Höhe.

Stundenlang geht es über mehrere Geländestufen bergwärts, von 154 auf 1266 Meter. Am Weg liegen die Weiler Cepovan und Lokve. Sonst sieht man nur übereinander gefaltete Waldanhöhen: Bäume rechts, Bäume links, Bäume voraus. Die Hänge im Ternowaner Wald wirken unberührt. Nicht eine Stromleitung ist zu sehen. Ja, sogar das Handy hat keinen Empfang - herrlich!

Das Gasthaus Mala Lazna ist eine Oase der Stille. Es liegt mitten auf einer großen Lichtung. Wir sind die einzigen Gäste und setzen uns auf die Terrasse. Die Sonne wärmt die Haut, die deftige Brotzeit liefert die Energie für den weiteren Anstieg.

Radflaschen füllen, Schuhe in die Pedale klicken und schon knirscht unter den Reifen wieder der Schotter. Die Piste folgt zunächst der Kammlinie und führt anschließend kontinuierlich tiefer. Plötzlich halten die vorderen Biker an, steigen ab, schieben. Zu beiden Seiten reihen sich meterhohe Holzstöße auf. Daneben ziehen Forstarbeiter mit ihren Pferden Buchenstämme auf den Weg herab. Männer mit Pferden, es kommt wieder ein Bild aus dem Ersten Weltkrieg in den Sinn: Selbst die Tiere litten, Millionen Pferde mussten als Armee-, Lasten und Zugtiere herhalten.

Vipava ist der vorletzte Etappenort. Die Kleinstadt liegt am Fuß des Berges Nanos. »Garten von Triest« nennen die Bewohner das fruchtbare, sonnenverwöhnte Tal. Nun stiehlt sich das Land in alle Richtungen davon: Die langgestreckten Bergzüge weichen Anhöhen, die Anhöhen sanften Wellen.

Unser Tross quert die slowenisch-italienische Grenze, nimmt den letzten Hügel und stoppt abrupt. Tief unten umschließt Triest mit seinem Hafen und den Palazzi das nördliche Ende der Adria, das im Dunst der Mittagssonne verschwimmt.

Sechs Tage verbrachten wir im Fahrradsattel. Wir sind knapp 300 Kilometer gefahren: Über Pässe, Militärstraßen, Asphaltwege, vorbei an verfallenen Bunkern und zugewucherten Schützengräben. Die Sonne hat uns verwöhnt, der Regen durchnässt, der Wind geärgert. Manch einer wurde am Berg kurzfristig zum Fußgänger, andere tragen Schrammen am Bein, kämpfen mussten wir alle - dennoch waren die verstrichenen Tage eindrucksvoll. Was bleibt, ist eine herrliche Abfahrt hinunter ans Meer. Los, weiter!

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