»Gentrifizierung ist doch ganz normal«
Wie bitte? Aufklärung über die Mythen der Wohnungsdebatte. Teil 8 der nd-Serie »Muss die Miete immer teurer werden?«
Der drastische Mietanstieg in vielen Städten sowie Konflikte um Verdrängung haben die Wohnungsfrage zurück in die politischen Debatten und auf die Straße gebracht. Wie in kaum einem anderen Bereich unseres Alltags prallen hier existenzielle soziale Bedürfnisse und ökonomische Interessen einer marktförmig organisierten Wirtschaft aufeinander. Eine soziale Wohnungsversorgung – das zeigen die letzten 150 Jahre der kapitalistischen Urbanisierung – muss fast immer gegen private Gewinninteressen durchgesetzt werden. Wir stellen in dieser Serie in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung gängige Behauptungen in den gegenwärtigen wohnungspolitischen Auseinandersetzungen auf den Prüfstand.
»Die Mietpreise steigen in allen Metropolen – was hier passiert, ist ganz normal.« Sprecher der Stadterneuerungs- und Stadtentwicklungsgesellschaft STEG
Wie wird argumentiert?
Mietsteigerungen und Gentrifizierung werden immer wieder als ein ganz normales Phänomen der Stadtentwicklung beschrieben, das sich – selbst wenn man dies wollte – gar nicht vermeiden ließe. KritikerInnen von Gentrifizierung in Orten mit einem noch vergleichsweise niedrigen Mietenniveau wird häufig vorgeworfen, sie seien provinziell, rückwärtsgewandt und wollten keinen Wandel zulassen.
Schließlich handele es sich bei den aktuellen Aufwertungsprozessen in vielen deutschen Städten um eine nachholende Entwicklung. Als Beleg hierfür dienen Verweise auf die für einkommensschwache MieterInnen noch viel schwierigere Wohnungssituation in anderen Regionen und Ländern. Im deutschen Kontext sind Vergleiche mit besonders teuren Städten wie München oder Frankfurt am Main beliebt, als internationale Beispiele für die Normalität von Gentrifzierung werden gern Paris, London oder Kopenhagen herangezogen.
Was ist dran?
Wie jeder Versuch einer Naturalisierung von gesellschaftlichen Verhältnissen sind auch Aussagen über die Normalität von steigenden Mieten und Gentrifizierung kritisch zu hinterfragen. Zunächst einmal ist festzuhalten: Die viel beschriebenen Aufwertungs- und Wachstumsprozesse sind in Deutschland auf Metropolenregionen (Städte mit mehr als einer halben Million EinwohnerInnen) und Universitätsstädte beschränkt. Aber selbst dort, wo die Bevölkerung und damit auch die Nachfrage nach Wohnraum wächst, muss dies nicht zwangsläufig zu allgemeinen Mietsteigerungen und zur Verdrängung von alteingesessenen BewohnerInnen führen.
Wien ist ein Gegenbeispiel zu Paris und London: Hier werden etwa 60 Prozent der Mietwohnungen von der Gemeinde oder von Genossenschaften verwaltet, die den Bedingungen der Wohnungsgemeinnützigkeit unterliegen. Die Mieten in diesen Beständen sind abhängig von tatsächlich entstandenen Kosten und staatlichen Förderprogrammen. Eine stärkere Konkurrenz führt dort nicht automatisch zu Mietsteigerungen. Je höher der Anteil von solchen sozial gebundenen Beständen in einer Stadt ist, desto größer sind die Auswirkungen auf die frei finanzierten Wohnungen. Wenn es viele preiswerte Angebote gibt, sind nur wenige MieterInnen bereit, auch überhöhte Preise zu zahlen, sodass die öffentlichen und genossenschaftlichen Wohnungen einen mietpreisdämpfenden Effekt haben.
Daneben hängt die Mietdynamik in den Städten von der jeweiligen Struktur der HauseigentümerInnen und deren Bewirtschaftungsstrategien ab. Erfahrungen zeigen, dass Aufwertung und Verdrängung in der Regel umfassende Veränderungen bei der Eigentümerstruktur vorausgehen. So setzen Mietsteigerungen durch Luxusmodernisierungen die finanziellen Kapazitäten für die dafür notwendigen Investitionen voraus. Insbesondere KleineigentümerInnen scheuen aber oft den damit verbundenen Aufwand und kalkulieren mit niedrigeren Erträgen. Investitionsstrategien, die unmittelbar mit Finanzanlagen verbunden sind, weisen hingegen die Tendenz zur möglichst schnellen Verwertung auf und setzen regelmäßig auf hohe Mietsteigerungen durch Modernisierungsarbeiten und Umwandlungen in Eigentumswohnungen.
Grundsätzlich zeigt sich, dass der Verwertungsdruck nach einem Verkauf von Wohnhäusern deutlich steigt, weil sich die KäuferInnen gezwungen sehen, die Aufwendungen für den Erwerb eines Hauses aus der Bewirtschaftung des Gebäudes möglichst schnell zu refinanzieren. Je höher die Verkaufspreise von bebauten Grundstücken, desto höher der Verdrängungsdruck für die MieterInnen. Da es keine festen Maßstäbe für Immobilienpreise gibt, spiegelt sich in jedem Verkaufspreis die Ertragserwartung der KäuferInnen wider. Hohe Preise zeigen also an, dass mit hohen Einnahmen und Erträgen gerechnet wird. Diese Form der »Ertragserwartungsspekulation« ist ein zentraler Motor von Gentrifizierung. So unterschiedlich sich die konkreten Verdrängungsprozesse in den Städten gestalten mögen, fast immer beginnen die Berichte der MieterInnen mit dem Satz: »Und dann kam der neue Eigentümer.«
Mit einer sozialeren Mietgesetzgebung, konsequenten stadt- planerischen Auflagen und einer stärkeren Besteuerung von Spekulationsgewinnen können die Spielregeln für die Verwertung von Wohnimmobilien jedoch verändert und kann der Verdrängungsdruck gesenkt werden. Die beste Versicherung gegen Mietsteigerungen und ungewollte Gentrifizierung ist die Stärkung von öffentlichen und gemeinnützigen Wohnungsbauträgern. Denn es gilt: Ohne Profit und Spekulationsgewinne könnten in allen Städten genügend Wohnungen bereitgestellt werden, die sich alle leisten können.
Fazit
Mietsteigerungen und Verdrängung folgen keinem Naturgesetz der Aufwertung, sondern sind Folge von Bewirtschaftungsentscheidungen und damit abhängig von den Rahmenbedingungen, die die Politik für die Wohnungswirtschaft setzt.
Andrej Holm ist Sozialwissenschaftler und zählt zu den prominetesten Experten eines kritischen Blicks auf Stadterneuerung, Gentrifizierung und Wohnungspolitik. Von ihm ist unter anderem erschienen: »Mietenwahnsinn. Warum Wohnen immer teurer wird und wer davon profitiert« (bei Knaur, München). Die Serie ist zuerst als Heft Nummer 15 in der Reihe »luxemburg argumente« der Rosa-Luxemburg-Stiftung erschienen. Sie kann unter rosalux.de kostenlos heruntergeladen werden.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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