»Gentrifizierung hat doch auch viele Vorteile für die Stadt«

Wie bitte? Aufklärung über die Mythen der Wohnungsdebatte. Teil 9 der nd-Serie »Muss die Miete immer teurer werden?«

  • Andrej Holm
  • Lesedauer: 6 Min.

Der drastische Mietanstieg in vielen Städten sowie Konflikte um Verdrängung haben die Wohnungsfrage zurück in die politischen Debatten und auf die Straße gebracht. Wie in kaum einem anderen Bereich unseres Alltags prallen hier existenzielle soziale Bedürfnisse und ökonomische Interessen einer marktförmig organisierten Wirtschaft aufeinander. Eine soziale Wohnungsversorgung – das zeigen die letzten 150 Jahre der kapitalistischen Urbanisierung – muss fast immer gegen private Gewinninteressen durchgesetzt werden. Wir stellen in dieser Serie in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung gängige Behauptungen in den gegenwärtigen wohnungspolitischen Auseinandersetzungen auf den Prüfstand.

»Gentrifzierung ist keine Gefahr, sondern eine Chance.« Reinhard Wolf von der Handelskammer Hamburg

Wie wird argumentiert?

Gentrifizierung – so ist in vielen stadtpolitischen Debatten zu hören – sei nicht nur ein ganz normaler Prozess, sondern habe auch viele Vorteile: Die damit einhergehenden Sanierungs- und Modernisierungsmaßnahmen retteten nicht nur oftmals heruntergekommene Altbauquartiere vor dem Verfall, sondern machten sie insgesamt attraktiver. Neue BewohnerInnen, Geschäfte und Investitionen sorgten für eine bessere soziale Mischung und Lebendigkeit in bis dahin vernachlässigten Problemvierteln.

Gerade in den Sozialwissenschaften gibt es seit Kurzem einen Trend dazu, den Nutzen der Gentrifzierung insbesondere für ärmere und sozial benachteiligte BewohnerInnen hervorzuheben. Demnach bringt der Zuzug von Besserverdienenden neue Wirtschaftsaktivitäten in einen Stadtteil, von denen Erwerbslose dann in Form von neuen Arbeitsplätzen profitieren könnten. Mit dem Anstieg der Grundstückswerte erhöhten sich zudem die lokalen Steuereinnahmen, womit sich kommunale Dienstleistungen und Infrastrukturen – etwa die Schul- und Kitaausstattung – verbessern ließen, was schließlich allen und nicht nur den Wohlhabenden zugutekommen würde. Zudem habe die Erfahrung gezeigt, dass die neu hinzuziehenden Mittelschichten sich stärker in ihrem Stadtteil engagieren würden und besser dazu in der Lage seien, die Interessen der Nachbarschaft durchzusetzen.

Dabei ist die Gegenüberstellung von Verslumung und Gentrifizierung eine beliebte Drohkulisse: Wer nicht will, dass be- stimmte Wohngebiete weiter verfallen und deren BewohnerInnen weiterhin abgehängt bleiben, sei auf Investitionen und Initiativen von außen angewiesen. Wer sich gegen Aufwertung stellt, dem wird regelmäßig vorgeworfen, die oftmals von Kriminalität und Verwahrlosung geprägten Verhältnisse in sogenannten Armutsquartieren konservieren zu wollen.

Was ist dran?

Anders als behauptet sind Verslumung und Gentrifizierung keine Gegensätze, sondern beides Extremformen der Immobilienverwertung, die zudem in einem engen Zusammenhang stehen. So ist die Vernachlässigung der Bausubstanz letztendlich die wohnungswirtschaftliche Voraussetzung für eine Gentrifizierung. Vor allem in Städten mit geringer staatlicher Regulierung des Wohnungsmarktes sind Zyklen der Desinvestition und der Reinvestition zu beobachten. Gerade in Stagnationsphasen können immobilienwirtschaftliche Gewinne nicht durch höhere Mieteinkünfte gesteigert werden.

Um trotzdem Überschüsse aus den Immobilien zu erwirtschaften, wird vor allem bei den Ausgaben gespart, die für den Erhalt und die Instandsetzung der Häuser benötigt werden. Während Besserverdienende auf den damit verbundenen Qualitätsverlust bei den Wohnstandards und in der Nachbarschaft mit einem Umzug in eine andere Gegend reagieren können, können sich Einkommensschwache dies meist nicht leisten. Und da es vor allem in Großstädten viele Menschen gibt, die aus verschiedenen Gründen (aufenthaltsrechtliche Probleme, Diskriminierung etc.) von regulären Mietverhältnissen ausgeschlossen bleiben, können selbst noch für Substandardwohnungen in heruntergekommenen Häusern regelrechte Wuchermieten verlangt werden.

In den USA nennt man die VermieterInnen in solchen Fällen Slumlords. Dieses Phänomen ist aber auch aus deutschen Städten – etwa aus dem Ruhrgebiet – bekannt, wo völlig heruntergewirtschaftete Wohnungen zu überhöhten Mieten zum Beispiel an Roma-Familien und Menschen ohne Papiere vermietet werden. Um sich die hohen Mieten leisten zu können, übernachten manchmal bis zu acht Personen in einem Zimmer.

Diese Desinvestitionsstrategie vonseiten der HauseigentümerInnen hat noch einen weiteren Vorteil: Ist der Wert der Gebäude und Grundstücke erst einmal so richtig im Keller, lohnt sich das Geschäft mit der Gentrifizierung umso mehr. Denn entscheidend sind dabei nicht nur die zu erwartenden potenziellen Einnahmen, sondern ist die Ertragslücke, die mit einer Aufwertung geschlossen werden kann.

Aber es gibt auch hier Gegenbeispiele, die beweisen, dass man sich nicht zwischen »Ghetto« oder Gentrifizierung entscheiden muss: Überall dort, wo in der Vergangenheit mit ausreichend öffentlichen Geldern und unter Beteiligung der BewohnerInnen saniert wurde, konnte die Bausubstanz erhalten und verbessert werden, ohne dass es zum Austausch der Bevölkerung kam. Die behutsame Stadterneuerung in Berlin-Kreuzberg der 1980er Jahre kann als Musterbeispiel für einen solchen Prozess gelten. Fast alle Gebäude wurden erneuert und umgebaut, ohne die alteingesessenen MieterInnen zu verdrängen. Diese Gefahr stellt sich zunehmend erst in den letzten Jahren, nachdem die Bindungen und Verpflichtungen aus der behutsamen Stadterneuerung ausgelaufen sind.

Bei der Gentrifizierung geht es also weniger um die Frage von Aufwertung oder Vernachlässigung, sondern vielmehr um die Frage der öffentlichen Verantwortung und um den Umgang mit privatem Gewinnstreben. Was die angeblichen Vorteile der Gentrifizierung für benachteiligte Bevölkerungsgruppen angeht, so ist die Forschung den Beweis hierfür bislang schuldig geblieben.

Abgesehen davon, dass bei dieser Argumentation alle jene ausgeblendet werden, die aufgrund des erzwungenen Wohnortwechsels im Zuge der Gentrifizierung überhaupt nicht in den Genuss der behaupteten Vorteile kommen können. Dagegen gibt es umfangreiche Studien, die zeigen, dass es in den Aufwertungsgebieten zu einer »Verdrängung aus dem bisherigen Lebensstil« kommt, weil steigende Wohnkosten mit Einsparungen bei anderen Ausgaben (z. B. für Bildung, Kultur, Freizeit) oder durch ein »Zusammenrücken« ausgeglichen werden müssen. Auch viele der neuen kommerziellen Angebote, die oftmals als Ausdruck von mehr Vielfalt und Lebensqualität wahrgenommen werden, können von ärmeren BewohnerInnen aufgrund der meist hohen Preise kaum genutzt werden.

Was sich hingegen bestätigt hat, ist die These vom stärkeren zivilgesellschaftlichen Engagement der neuen BewohnerInnen. Meist sind es die hoch gebildeten Mittelschichten, die in den Quartiersräten und der Lokalpolitik ihre Interessen vertreten. In vielen Aufwertungsgebieten entwickeln sich dabei auch NIMBY-Initiativen, die gegen ruhestörende Clubs, ungewünschte Neubauprojekte und teilweise auch gegen Sozialwohnungen mobilisieren.

Fazit

Gentrifizierung kann wie alle anderen Stadtentwicklungsprozesse nicht gut für die gesamte Stadt oder zum Vorteil für alle sein. In einer auf Ungleichheit basierenden Gesellschaft produzieren solche Entwicklungen immer GewinnerInnen und VerliererInnen. Gentrifizierung gut oder schlecht zu finden ist immer eine soziale und politische Positionierung.

Andrej Holm ist Sozialwissenschaftler und zählt zu den prominetesten Experten eines kritischen Blicks auf Stadterneuerung, Gentrifizierung und Wohnungspolitik. Von ihm ist unter anderem erschienen: »Mietenwahnsinn. Warum Wohnen immer teurer wird und wer davon profitiert« (bei Knaur, München). Die Serie ist zuerst als Heft Nummer 15 in der Reihe »luxemburg argumente« der Rosa-Luxemburg-Stiftung erschienen. Sie kann unter rosalux.de kostenlos heruntergeladen werden.

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