Corbyn entmachtet Brexit-Gegner

Exit-Befürworter aus Gewerkschaften und Labour-Partei für linken EU-Austritt

  • Christian Bunke, Manchester
  • Lesedauer: 4 Min.

»Ist sozialistische Planung mit dem gemeinsamen Markt kompatibel?« Diese Frage möchte die Gruppierung »Gewerkschafter gegen die EU« auf einer Veranstaltung am Rande des Kongresses des britischen Gewerkschaftsbundes TUC am 11. September in Brighton diskutieren. Man kann davon ausgehen, dass die Antwort aus der Sicht der Anti-EU-Gewerkschafter »nein« heißen wird. Doch die Mehrheit der britischen Gewerkschaftsspitzen geht in eine andere Richtung. Die Führungen der großen Gewerkschaften und die dominierenden Kräfte im Gewerkschaftsbund TUC fordern einen Verbleib Großbritanniens im gemeinsamen Markt. Nur so könnten Arbeitsplätze und gewerkschaftliche Rechte gewährleistet werden, lautet die Argumentation.

Ironischerweise leistet derzeit die Nahrungsmittelgewerkschaft BFAWU, eine der wenigen Gewerkschaften die sich für den Brexit positioniert hat, die erfolgreichste Arbeit in der Rekrutierung und Integration osteuropäischer Arbeitnehmer. Gerade als Austrittsbefürworterin fordert sie das Bleiberecht für die in Großbritannien lebenden EU-Ausländer ein. Diese Forderung wird vom gesamten linken Brexit-Lager aufgestellt.

Sowohl die EU-Gegner als auch die EU-Befürworter werden genau hinhören, wenn Jeremy Corbyn in der Rolle als Labour-Parteichef seine Gastrede auf dem TUC-Kongress halten wird. Für ihn ist es einmal mehr eine Chance, sein linkes Programm mit jenem der regierenden Tories zu kontrastieren und um Unterstützung aus der Gewerkschaftsbewegung zu werben. Doch eine spannende Frage wird sein, wie sich Corbyn zum Brexit und zur Position der Labour Partei in dieser Frage äußern wird.

Es ist eine alles andere als fertige Position. Die Mehrheit der Labour-Fraktion im Londoner Unterhaus steht für den weichest möglichen Brexit mit Verbleib Großbritanniens im gemeinsamen Markt. Damit ginge auch eine Beibehaltung der seit Thatcher auf der Insel institutionalisierten neoliberalen Politik einher.

Doch Corbyn hat sich in den vergangenen Wochen wieder seiner traditionellen EU-skeptischen Haltung angenähert. Ende Juli warf er sechs Abgeordnete aus seinem Schattenkabinett und verbannte sie somit von der Frontbank der Oppositionsseite im Unterhaus. Der Grund: Die sechs hatten einen – von insgesamt 51 Labour-Abgeordneten gestellten – Ergänzungsantrag zum Brexit-Gesetzentwurf der Regierung unterstützt, der einen Verbleib Großbritanniens im gemeinsamen Markt fordert. In Fernsehinterviews tritt Corbyn seitdem gegen den Verbleib im gemeinsamen Markt auf.

Die großen sozialen Auseinandersetzungen auf der Insel der vergangenen Wochen hatten oberflächlich nichts mit dem Brexit zu tun. Bei den Streikbewegungen von Müllleuten in Birmingham, Reinigungskräften in London, Assistenzlehrern in Durham oder dem Kabinenpersonal bei British Airways ging es um Niedriglöhne, Arbeitszeiten und Prekarisierung. Das gewerkschaftslinke National Shop Stewards Network NSSN mobilisiert mit der Forderung nach Lohnerhöhungen im öffentlichen Dienst zum TUC-Kongress. Und bei der Großdemonstration gegen den Parteitag der regierenden Konservativen in Manchester am 1. Oktober geht es um den Kampf gegen Einsparungen und Privatisierungen beim staatlichen Gesundheitswesen NHS.

Und doch ist der Brexit im Hintergrund stets präsent. Die derzeit stattfindenden Streiks sind Ausdruck derselben Stimmungslage, die dafür sorgte, dass alle Industrieregionen Englands für den Brexit stimmten. Eine Stimmungslage, wonach fast 40 Jahre neoliberale Politik in Großbritannien genug seien und es nun Zeit für einen grundlegenden Politikwechsel sei.

Dieselbe Stimmungslage spülte Jeremy Corbyn an die Spitze der Labour Partei und sorgte dafür, dass er allen Putschversuchen des rechten Parteiflügels zum Trotz immer noch an der Spitze seiner Partei steht und diese sogar in eine kommende Regierung führen könnte. Im Fall eines Labour Siegs nach nicht auszuschließenden Neuwahlen könnte Corbyn als Premierminister für die Austrittsverhandlungen aus der EU verantwortlich sein. Großbritannien hätte dann einen linken EU-Gegner als Regierungschef. Deshalb wird linken Anti-EU-Positionen in Zeitungen wie »Independent«, »Guardian« oder selbst der »Financial Times« derzeit ein Raum zugestanden, der ihnen im Vorfeld der EU-Referendums verweigert wurde.

Natürlich steckt in diesem Szenario auch ein Risiko. Das verdeutlichen die Erfahrungen, die die griechische Syriza-Regierung mit den EU-Verhandlungen gemacht hat. Ein linker EU-Austritt, aber auch der Versuch eines linken britischen Regierungsprojektes innerhalb der EU wird auf harten Widerstand der »Institutionen« stoßen.

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