Der Mythos vom Frühstart

Englischunterricht an Grundschulen ist weniger sinnvoll als bislang gedacht. Das ergab eine Studie, die jüngst veröffentlicht wurde. Von Thomas Gesterkamp

  • Thomas Gesterkamp
  • Lesedauer: 5 Min.

Seit die PISA-Vergleiche um die Jahrtausendwende einen Rückstand des deutschen Bildungssystems gegenüber anderen Ländern anzeigten, wird hierzulande eifrig reformiert. Inzwischen aber auch heftig zurückgerudert, wie bei der verkürzten Schulzeit bis zum Abitur: Fast alle Bundesländer haben sich vom G8-Modell verabschiedet und bieten wieder das Gymnasium in neun Jahren an. Ein anderes Innovationsprojekt wird ebenfalls von Skepsis begleitet: das Englischlernen ab der ersten Klasse.

Je früher Kinder mit einer anderen Sprache in Kontakt kommen, desto leichter lernen sie diese, lautete jahrelang das Credo von Bildungswissenschaft und -politik. Trotz der Warnungen von Kritikern, die eine Konzentration auf das »Kerngeschäft« Lesen, Schreiben und Rechnen fordern, bieten mittlerweile über zwei Drittel der Grundschulen Englischunterricht an, im Saarland und in Teilen Badens wegen der Nähe zum Nachbarland auch Französisch. Manche Pädagogen fordern den spielerischen Umgang mit Fremdsprachen schon in der Kita - unterstützt von »Helikopter«-Eltern, die ihrem Nachwuchs aus Sorge um dessen Zukunft am liebsten schon mit drei Jahren Chinesisch beibringen würden.

Eine Untersuchung der Ruhr-Universität Bochum rät jetzt zur Entspannung. Danach zeigen Kinder, die von Beginn der Grundschule an Englisch lernen, sieben Jahre später sogar schlechtere Leistungen in diesem Fach als Kinder, die erst zwei Klassen später in die Fremdsprache einsteigen. Die Forscher werteten eine Längsschnittstudie aus, die zwischen 2010 und 2014 erstellt wurde. »Der fremdsprachliche Frühbeginn wird häufig hochgelobt, obwohl es insgesamt wenig Forschung gibt, die diesen Mythos unterstützt«, betont Nils Jäkel vom Bochumer Lehrstuhl Didaktik des Englischen.

In Kooperation mit der Technischen Universität Dortmund analysierte Jäkels Team Daten von 31 Gymnasien in Nordrhein-Westfalen. Die Wissenschaftler verglichen das Lese- und Hörverständnis von 5130 Schülerinnen und Schülern in zwei Gruppen. Noch in der fünften Klasse schnitten jene Kinder besser ab, die früh mit dem Englischunterricht begonnen hatten. In der siebten Klasse aber wurden sie schließlich überholt von den »Spätstartern«, die erst in der dritten Klasse mit dem Lernen der Fremdsprache angefangen hatten.

Dabei ist das Erlernen der englischen Sprache durchaus sinnvoll. Durch das britische Empire und mit dem Aufstieg der Vereinigten Staaten von Amerika entwickelte sich das Englische zur wichtigsten Verkehrssprache der Welt. Die vorwiegend englischsprachigen sozialen Netzwerke im Internet haben diesen Trend in jüngster Zeit noch verstärkt. Englisch ist heute nicht mehr eine Fremdsprache unter vielen, sondern wurde zur Lingua franca, zum modernen Latein. In Europa steht das Fach fast überall auf den Lehrplänen, auch der Brexit wird an dieser Vorrangstellung nichts ändern. 82 Prozent der Kinder in der EU lernen in den ersten Schuljahren bereits eine Fremdsprache, mit 68 Prozent liegen die deutschen Schülerinnen und Schüler unter dem Durchschnitt. Im »frühesten Kindesalter« sollten Kenntnisse anderer Sprachen vermittelt werden, gibt die Europäische Kommission vor. Doch besonders nachhaltig ist das offenbar nicht.

»Unsere Studie bestätigt Ergebnisse aus anderen Ländern wie Spanien, die zeigen, dass ein bis zwei Stunden Unterricht bei Grundschülern auf längere Sicht nur wenig zur Sprachkompetenz beitragen«, sagt Forscher Jäkel. Dazu wäre ein »intensiverer Kontakt« notwendig. Die Wissenschaft kleidet dies in das Bild vom »Sprachbad«, in das die Lernenden im Optimalfall eintauchen können. Nur ein täglicher fundierter Unterricht garantiere nennenswerte Fortschritte, 90 Minuten pro Woche seien dafür definitiv zu kurz.

Die Englischdidaktik an der Grundschule basiert auf dem altersgemäßen zwanglosen Hören und Erleben der fremden Sprache durch Reime, Lieder und Geschichten. Das lege »die Grundlage für den Erwerb von Mehrsprachigkeit und für lebenslanges Fremdsprachenlernen«, hofft die Kultusministerkonferenz. Mit dem Gymnasium jedoch kommt es zu einem problematischen Bruch, zu einer Art Sprachschock. »Ein eher spielerisch, ganzheitlich angelegter Unterricht geht in eine kognitiv orientierte, verkopfte Methodik über«, analysiert Jäkel.

Die weiterführende Schule ist leistungsorientierter, konzentriert sich stärker auf Grammatik und das trockene Abfragen von Vokabeln. Dass die zunächst gemessenen Vorteile im Hörverstehen in dieser Phase zum Teil verloren gehen, erklärt die Bochumer Studie mit einem Motivationsverlust jener Schülerinnen und Schüler, die sich mit dem abrupten Methodenwechsel schwer tun. Wichtig sei deshalb, die didaktischen Konzepte von Grundschule und Gymnasium besser zu verknüpfen. Auch die Schulbuchverlage können mit besser aufeinander abgestimmten Lehrwerken dazu beitragen.

Trotz ihrer ernüchternden Erkenntnisse stellen die Wissenschaftler den frühen Englischunterricht nicht grundsätzlich in Frage. Man sollte nur »keine überzogenen Erwartungen haben«, warnen Jäkel und seine Kollegen. Als sinnvollen Kompromiss betrachten sie, »in Klasse drei mit erhöhter Stundenzahl einzusteigen«. In den meisten Bundesländern ist dieser Zeitpunkt ohnehin die Regel, nur wenige beginnen bereits mit der ersten Klasse.

Für zentral hält die Forschung eine gründliche Ausbildung der Lehrkräfte. Denn als das Grundschulenglisch vor gut zehn Jahren in Deutschland eingeführt wurde, gab es viele Quereinsteiger ohne ausreichende Qualifikation, ein paar Wochen Zusatzkurs musste reichen. Entsprechend improvisiert war in dieser Startphase vielerorts der Unterricht. Mittlerweile hat immerhin mehr als die Hälfte der Englischlehrer an Grundschulen das Fach tatsächlich studiert, Tendenz steigend. »Bald werden wir einen ganz neuen Standard haben«, prognostiziert Heiner Böttger, der an der Katholischen Universität Eichstätt Englisch-Didaktik lehrt und schon 2009 eine Studie zum (aus seiner Sicht durchaus erfolgreichen) Frühstart in der Grundschule vorgelegt hat.

Ein Aspekt kommt in der kontroversen Debatte um den Fremdsprachenunterricht oft zu kurz: die besonderen Lernschwierigkeiten von Kindern binationaler Eltern und aus Einwandererfamilien. Sie wachsen meist zweisprachig auf, was Entwicklungspsychologen für grundsätzlich unproblematisch halten. Doch nicht alle Erstklässler mit Migrationshintergrund können fehlerfrei Deutsch. Wenn dann noch das Englische als »zweite Fremdsprache« hinzukommt, wird eine zusätzliche Hürde aufgebaut - mit möglicherweise weitreichenden Folgen für den künftigen Schulerfolg.

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