Deutschland steckt in Sachen Mafia in der Steinzeit
Die Autorin und Mafiaexpertin Petra Reski über ihren neuen Roman »Bei aller Liebe«, die Stadt Venedig und Jakob Augsteins Bärendienst am Journalismus
In Ihrem neuen Roman mit der Anti-Mafia-Staatsanwältin Serena Vitale in der Hauptrolle geht es - natürlich - um die Mafia in Italien und Deutschland. Aber nicht nur: Sie machen auch Flüchtlinge und den Umgang mit ihnen zum Thema. Wie hängen die beiden Dinge zusammen?
Es geht erst seit kurzer Zeit durch die deutsche Presse, dass sich mit der Flüchtlingskrise für die Mafia ein neues Geschäftsfeld eröffnet hat: Sie verdient ihr Geld als Betreiber von Aufnahmezentren, zumal dazu die klassischen Standbeine der Mafia wie Baugewerbe, Catering oder Sicherheitsdienste gehören. Für jeden Flüchtling, der in Italien ankommt, zahlt der italienische Staat pro Tag zwischen 35 und 38 Euro, für Minderjährige sogar 80 Euro: Ein Kopfgeld für die Mafia - damit wurden bereits Millionen veruntreut. Die Bosse betrachten die Flüchtlinge als eine Art Rohstoff, den sie für Schwarzarbeit, Prostitution oder Drogenhandel ausbeuten können.
Das Thema Flüchtlingspolitik ist in Italien und Europa hochaktuell, nicht zuletzt wegen des Streits um die Seenotrettung im Mittelmeer. Warum spielt das Geschäft der Mafia mit den Geflüchteten in der politischen Diskussion kaum eine Rolle?
Die wenigsten wissen davon, obwohl das eine Geschichte ist, die in Italien schon ziemlich lange dauert. Die Mafia hat sich schon vor Jahren auf die Flüchtlingskrise vorbereitet: Ein abtrünniger Mafioso hat ausgesagt, dass die Bosse in Sizilien vor zehn Jahren leerstehende Lagerhäuser, Kasernen usw. aufgekauft haben. Wenn man nun bedenkt, dass sich die Mafia und ihre Geschäfte in Italien und Deutschland nicht wesentlich unterscheiden, stellt sich die Frage, warum die Mafia nicht auch in Deutschland an den Flüchtlingen verdienen sollte.
Petra Reski, 1958 als Tochter eines Ostpreußen und einer Schlesierin im Ruhrgebiet geboren, lebt seit 1991 in Venedig.
Seit Ende der 1980er Jahre schreibt sie über Italien und die Mafia, zunächst als Journalistin, seit einigen Jahren auch als Schriftstellerin. Im Juli ist das jüngste Buch der vielfach ausgezeichneten Autorin erschienen. »Bei aller Liebe« (Hoffmann und Campe) ist der dritte Teil einer Romanreihe mit der Anti-Mafia-Staatsanwältin Serena Vitale in der Hauptrolle. Reski machte jüngst mit einer Crowdfunding-Kampagne für Gerichtskosten auf sich aufmerksam, nachdem »Der Freitag« ihr Rechtsbeistand gegenüber einem Erfurter Gastronomen verwehrte. Verleger Jakob Augstein warf Reski »mangelhafte Recherche« vor, woraufhin sie ihn verklagte. Am 29. September soll es zur Gerichtsverhandlung kommen. Mit ihr sprach Katja Herzberg.
Sie machen kein Geheimnis daraus, dass in Ihre literarischen Werke handfeste Recherchen einfließen. Bei Veröffentlichung des ersten Buches der Vitale-Reihe zitierten Sie auf Ihrem Blog Luis Aragon mit den Worten: »Ich lüge, um die Wahrheit zu erzählen.« Das heißt, einige Leute müssten sich in Ihren Büchern wiedererkennen. Haben Sie Leserbriefe von Mafiosi oder auch anderen bekommen?
Ich würde mich wundern, wenn sie mir schreiben würden: »Ich habe mich da erkannt« (lacht). Ich denke eher, dass sie versuchen würden, mich zu verklagen. Aber das ist bei einem Roman juristisch viel schwieriger als bei einem journalistischen Text. Immerhin gibt es in Deutschland die Kunstfreiheit.
Wie ähnlich sind Ihre Figuren denn den realen?
Es ist nicht so, dass ich einfach einen Mafioso nehme und dem eine andere Augenfarbe gebe. Die Romanfiguren sind erfunden, das ist reine Fiktion. Aber die Fakten haben mich natürlich für die Geschichten inspiriert, wie eben jetzt das Geschäft der Mafia mit den Flüchtlingen. In »Die Gesichter der Toten« war es das Geschäft mit der Windenergie, in »Palermo Connection« der große Prozess um die Verhandlungen zwischen der Mafia und dem italienischen Staat in der Zeit der Attentate, die sich jetzt zum 25. Mal jähren.
Wie wichtig ist es Ihnen, dass die Leser Ihre intertextuellen Bezüge wahrnehmen, also die realen und wahren Geschichten wiedererkennen?
Wer es erkennt: gut. Derjenige hat einen Mehrwert. Aber eigentlich dienen die Bezüge eher der Geschichte und dem Ambiente. Die Geschichte muss glaubhaft sein und funktionieren, damit dem Leser klar wird, in welcher Welt Antimafia-Staatsanwälte wie die von mir geschaffene Serena Vitale leben. Das ist der Kontext, der ist wichtig.
Intertextuelle Bezüge sind durchaus etwas Subversives. Inwiefern nutzen Sie dieses Stilmittel auch als Taktik bei der Flucht aus dem angreifbareren Journalismus?
Die Literatur eröffnet Möglichkeiten, die der Journalismus nicht bietet. Gerade was die Psychologie der Figuren betrifft. In einem journalistischen Artikel kann man davon nicht viel unterbringen, nicht mal andeuten, ohne Gefahr zu laufen, Unterstellungen zu machen. Dabei sind gerade die Abgründe das eigentlich Spannende. Die Abgründe, die sich bei den einzelnen Figuren rund um die Auseinandersetzung zwischen der Mafia und der »anständigen Gesellschaft« auftun, sind viel interessanter als die Mafiosi selbst. Zu beschreiben, wie es der Mafia gelingt, ganze Gesellschaften oder einzelne Individuen dazu zu bringen, ihre moralischen Überzeugungen über den Haufen zu werfen, das ist wirklich spannend.
In Ihrem aktuellen Buch wird ein deutscher Staatsanwalt tot in Sizilien aufgefunden. Serena Vitale sträubt sich zunächst dagegen, sich der Sache anzunehmen. Warum dieser drastische Einstieg?
Ja, ich habe zum ersten Mal diesen klassischen Krimi-Einstieg mit einer Leiche gewählt, aus dem einfachen Grund, weil in mir immer ein Satz nachgeklungen hat, den einmal ein Polizist gesagt hat: Solange in Deutschland kein Staatsanwalt oder Polizist ermordet wird, passiert gar nichts im Kampf gegen die Mafia. Dann habe ich gedacht: Machen wir das doch mal.
Glauben Sie, dass es in der Realität bald auch so weit ist?
Ich hoffe, dass es nicht dazu kommen muss.
Die Aktivitäten der Mafia werden in der Berichterstattung immer präsenter. In den letzten Wochen kamen diverse Fälle in Deutschland und Italien an die Öffentlichkeit, seien es Festnahmen im Schwarzwald Ende Juni, die Verwicklung der Camorra in Waldbrände am Vesuv oder Anti-Mafia-Konferenzen wie jüngst in Berlin, an denen sogar die Innenminister beider Staaten teilgenommen haben. Reicht das?
Meiner Meinung nach verbirgt sich dahinter der Wahlkampf. Ich würde mir ja sehr wünschen, dass die Ankündigungen, die bei solchen Veranstaltungen gemacht werden, auch in die Tat umgesetzt werden. Aber ich bin da skeptisch, gerade was das Vorhaben angeht, bereits die Mafia-Zugehörigkeit unter Strafe zu stellen.
Im Gespräch sind die Beweislastumkehr sowie die Möglichkeiten für Beschlagnahmungen auszuweiten. Innenminister Thomas de Maizière erklärte zudem, Paragraf 129 zur Verfolgung krimineller Vereinigungen sei bereits angepasst. Ist die Bundesregierung auf dem richtigen Weg?
Ich habe mit deutschen Staatsanwälten gesprochen und die sind skeptisch: Auch in der Neufassung des Gesetzes kommt das Wort Mafia nicht vor. Sie stellen immer wieder fest, dass die Möglichkeiten zur Verfolgung der Mafia in Deutschland nicht annähernd mit denen in Italien vergleichbar sind. In Italien kann man schon Güter konfiszieren, sobald die Clan-Zugehörigkeit von einer bestimmten Zahl von Quellen bestätigt ist. Solch eine präventive Beschlagnahme ist in Deutschland undenkbar. Dabei betonen alle Anti-Mafia-Staatsanwälte, dass man die Mafia nur beim Geld treffen kann.
Wichtig scheint mir auch, dass die konfiszierten Güter von Initiativen wie Libera verwaltet werden, die den zivilgesellschaftlichen Kampf gegen die Mafia führen. Passiert auf der Ebene der Zivilgesellschaft auch zu wenig in Deutschland?
Deutschland befindet sich in Sachen Mafia in einem prähistorischen Zustand. Gerade haben sich die Morde von Duisburg vom 15. August 2007 zum zehnten Mal gejährt. Darüber wurde viel Tinte vergossen - aber vergessen, dass italienische Staatsanwälte dabei gescheitert sind, die Güter der Täter in Deutschland zu beschlagnahmen. Damals erschienen sogar Artikel, in denen den Tätern die Gelegenheit gegeben wurde, sich zu rechtfertigen und anzukündigen, dass sie gerne wieder ihre Pizza Romana am Niederrhein backen würden. Wir sind in Deutschland in einer Art Steinzeit, was das Bewusstsein für das Problem betrifft.
Werden auch Journalisten nicht der Verantwortung gerecht, diesem Thema mehr Aufmerksamkeit zu widmen?
Na ja, für Journalisten ist es erst einmal - das weiß ich aus eigener Erfahrung - ziemlich schwer, weil die sogenannte Verdachtsberichterstattung, die in Deutschland extrem eng definiert ist, letztlich nur ermöglicht, über bereits erfolgte Urteile zu referieren. Und wenn man als Journalist nur über bereits erfolgte Urteile berichten kann, dann kann man über die Mafia gar nichts schreiben. Und selbst wenn man nur Gerichtsberichterstattung macht, kann man Pech haben und verurteilt werden, so wie ich. Mit mir und meinen Auseinandersetzungen soll ein Exempel statuiert werden, damit sich andere Journalisten fragen: Soll ich mir das jetzt antun?
Und auch die Redaktion fragt schon im Vorfeld: Sollen wir so eine Geschichte überhaupt machen? Denn die Wahrscheinlichkeit verklagt zu werden ist hoch. Gerade in diesen Zeiten, wo im Journalismus an jedem Euro gespart wird, fällt das Thema Mafia unter den Tisch.
Sie sprechen Ihre Auseinandersetzung mit dem »Freitag« an. Sie schrieben für die Wochenzeitung über einen Erfurter Gastronomen und einen MDR-Bericht zur »Mafia in Mitteldeutschland«. Sowohl der MDR als auch Sie wurden von dem namentlich genannten mutmaßlichen Mitglied der der kalabrischen Mafia ’Ndrangheta verklagt. »Freitag«-Verleger Jakob Augstein warf Ihnen daraufhin »mangelhafte Recherche« vor. Was bedeutet das Vorgehen Augsteins gegen Sie für den Journalismus?
Er hat den Journalisten in Deutschland einen Bärendienst erwiesen, eindeutig. Die Mafia freut sich, die bejubelt ihn.
Der Fall ist noch nicht abgeschlossen. Sie haben inzwischen Klage auf Beschädigung Ihres Persönlichkeitsrechts gegen Augstein eingereicht, am 29. September soll es zur Verhandlung kommen. Zudem wehren Sie sich weiter gegen den Erfurter Gastronom. Ende Juni war bereits der MDR vor dem Erfurter Landgericht erfolgreich, die Schadenersatzklage wurde abgewiesen. Was erhoffen Sie sich von der weiteren gerichtlichen Auseinandersetzung?
Die Begründung im Fall des MDR ist mindestens kurios, weil sie dem vorhergehenden Urteil widerspricht: Entweder ist die Verdachtsberichterstattung möglich oder nicht. Nun bleibt abzuwarten, was die Richter in meinem Fall sagen. Immerhin ist der Kläger bereits mit dem Versuch gescheitert, das Gericht dazu zu bringen, noch einmal eine Geldstrafe über mich zu verhängen.
Wie sehr belasten Sie persönlich solche Verfahren und eine ständige Bedrohungslage durch Mafia-Angehörige?
Natürlich sind Prozesse immer belastend. Immerhin habe ich mich inzwischen daran gewöhnt, dass alles, was ich von mir gebe - sei es in Artikeln, im Blog, auf Facebook, Twitter oder wie auch immer - gesammelt wird. Der Anwalt meines Klägers hat die Gerichte mit Hunderten von Seiten überschwemmt, darunter auch sehr komische Sachen, etwa als ich in meinem Blog über Mafia und Literatur schrieb, dass ich Tarantinos »Inglourios Basterds« sehr inspirierend fand. Daraus hat der Anwalt meines Klägers auf eine gewisse Blutrünstigkeit meinerseits geschlossen. Natürlich wird damit beabsichtigt, mich zum Schweigen zu bringen. Aber glücklicherweise hat das Gericht bestätigt, dass man mir nicht verbieten kann, über die Mafia in Deutschland zu reden.
Haben Sie und Ihre Kollegen in Italien dieselben Probleme?
In Italien werden die Journalisten reihenweise verklagt. Die Mafia versucht, hohe Entschädigungssummen, zum Teil sogar Millionen, einzuklagen. Aber im Unterschied zu Deutschland verlieren die Journalisten in Italien diese Prozesse nicht.
Vor wenigen Wochen haben sich die Morde an den bekannten Anti-Mafia-Staatsanwälten Giovanni Falcone und Paolo Borsellino zum 25. Mal gejährt. Ist die Bedrohung von Mafia-Bekämpfern heute allein eine finanzielle oder gibt es nach wie vor physische Angriffe?
In Süditalien ist es nach wie vor so, dass Journalisten das Auto angezündet oder bei ihnen eingebrochen wird. Viele leben unter Polizeischutz. Das »Osservatorio Ossigeno per l’informazione« von Alberto Spampinato dokumentiert diese Angriffe. Und es ist ein gewaltiger Fortschritt, dass die italienischen Kollegen ihre Prozesse nicht verlieren. Wenn ich italienischen Journalisten oder Staatsanwälten erzähle, was ich in den letzten Jahren in Deutschland erlebt habe, ernte ich nur Kopfschütteln. Das kann man in Italien kaum glauben.
Wie wichtig ist es, dass die Betroffenen dennoch weitermachen? Roberto Saviano ist ja nur einer von vielen, die unter Polizeischutz leben und dennoch Mafia-Aktivitäten recherchieren und veröffentlichen.
Es gibt in Italien sehr viele gute Investigativreporter, die all die Missstände bekannt machen. Es ist wichtig, dass immer wieder über die Geschäfte der Mafia berichtet wird, gerade im heutigen Italien, in dem aufgrund der schlechten Wirtschaftslage eine Art Raubtierkapitalismus herrscht. Das ist der beste Moment für die Mafia.
Inwiefern?
Die italienische Wirtschaftskrise spielt der Mafia in die Hände. Weil die Banken kaum Kredite geben, gibt es gerade in Norditalien reihenweise Fabriken, kleine Unternehmen, oft Familienunternehmen, die von mafiosen Wucherern in den Ruin getrieben wurden, bankrottgegangen sind und nun der Mafia gehören. Die Mafia hat gerade einen großen Entwicklungssprung gemacht.
Ihre Buchreihe spielt allerdings nicht im Norden Italiens, auch nicht im Kernland der ’Ndrangheta in Kalabrien oder rund um Neapel bei der Camorra, sondern auf Sizilien. Die Insel ist das bekannteste Mafiagebiet. Ist Ihnen die Heimat der Cosa Nostra nicht zu klischeebeladen?
Es liegt daran, dass ich Palermo am besten kenne. Die Stadt ist in Italien neben Venedig meine zweite Heimat. Zudem waren Sizilien und die Cosa Nostra immer schon ein Laboratorium für kriminelle Strategien im Verbund mit Politik und Wirtschaft. Was ihre politischen Verbindungen betrifft, hatte die sizilianische Cosa Nostra den anderen Mafia-Organisationen immer etwas voraus. Das fand und finde ich sehr interessant. Und jetzt im Moment angesichts der Flüchtlingskrise ist natürlich klar, dass Sizilien das Ziel Nummer eins ist.
Gleichzeitig gab es in Sizilien auch besonderen Widerstand gegen die Mafia.
Ja, auch das hat mich immer an Sizilien interessiert. Das ist in Kalabrien keineswegs so, auch nicht in Kampanien, wobei die Camorra kaum vergleichbar mit der Cosa Nostra ist. Doch wenn wir über Kalabrien reden, sagen Sizilianer immer, dass es dort wie auf Sizilien vor 20 Jahren sei. Das spürt man in Kalabrien auch ziemlich stark, finde ich. Sizilien ist weiter. Und hat einen hohen Blutzoll dafür entrichtet, um da hinzukommen.
Daran hat auch die Linke ihren Anteil - erinnert sei nur an den Kommunisten Peppino Impastato, der von der Cosa Nostra ermordert wurde. Müsste sich die Linke auch heute den Antimafia-Kampf stärker auf die Fahnen schreiben?
Es gibt ja keine Linken mehr (lacht). Jedenfalls nicht das, was ich darunter verstehen würde. Es gibt ebenso viele »linke Politiker«, die mit der Mafia zusammenarbeiten, wie rechte Politiker. Die einzigen, die davon noch frei sind, sind jene vom Movimento Cinque Stelle (Fünf-Sterne-Bewegung von Beppe Grillo, A. d. Red.). Wir werden sehen, wie lange es dauert, bis auch sie unterwandert sind, Versuche dazu gibt es schon.
Sie haben sich in den vergangenen Jahren immer wieder zur Fünf-Sterne-Bewegung geäußert, sie gegen Anfeindungen in Italien sowie aus Deutschland verteidigt. Sie unterstützen auch einige Anliegen der Partei. Welche Hoffnung haben Sie in die »Bewegung«?
Ich setze Hoffnungen in den Geist der Cinque Stelle - die Anfänge lagen in Grillos »Meetups«, in kleinen Zellen von Bürgerinitiativen, wenn man so will. Da gab es eben welche, die sich in Venedig gegen die Kreuzfahrtschiffe gewendet haben oder gegen Großprojekte wie die Adria-Pipeline TAP. Wieder andere haben sich bei Anti-Mafia-Organisationen engagiert. Dass sie sich diesen Geist bewahren, ist auch eine Hoffnung von vielen jungen Italienern. Sie wollen eine Alternative zu denjenigen, die Italien in den letzten 25 Jahren regiert haben.
Die Fünf-Sterne-Bewegung wird allerdings nicht unkritisch betrachtet, gerade außerhalb Italiens, auch in Deutschland. Sie gilt als »europafeindlich«, ihr Chef Beppe Grillo als Populist.
Sie wird kritisiert, weil viele Korrespondenten ihr »Copy and Paste« aus der italienischen Regierungspresse als politische Analyse verkaufen. Ich habe noch keinen Artikel gelesen, der versuchen würde, einmal zu erklären, was sich überhaupt dahinter verbirgt. Wir reden hier von einem Land, das 30 Jahre lang von Andreotti regiert wurde, einem Mann, der mit der Mafia zusammengearbeitet hat. Und die nächsten 25 Jahre von Berlusconi, einem Mann, der von der Mafia eingesetzt wurde, um dort zu sitzen, wo er saß. Jetzt regiert ein Mann, der sich einer großen Freundschaft zu Berlusconi erfreut und mit ihm gerne zusammen weiterregieren möchte. Angesichts dessen kann man verstehen, dass die Italiener sich nach einer Opposition sehnen. Und das ist eben zurzeit Cinque Stelle.
Nun haben wir über viel Negatives in Italien gesprochen. Trotzdem leben Sie weiter in Venedig. Was hält Sie dort?
Was wäre denn die Alternative? Wieder nach Deutschland zurückzukommen? Nein, ich bin wahrscheinlich nicht mehr integrierbar.
Das müssen Sie erklären. Ist der Kaffee zu schlecht?
Der Kaffee ist nur ein Grund. Mir ist die italienische Kultur vertrauter, weil ich in einer schlesisch-ostpreußischen Großfamilie katholischer Prägung aufgewachsen bin. In Deutschland herrscht aber mehr das Protestantisch-Calvinistische. Und das ist mir fremd. Eine Ausnahme ist München, da geht es mir wie den Italienern: Sie mögen die Stadt so sehr, weil sie es für eine Art besseres Italien halten. Ist Bayern ja auch, mit der CSU, wie man sieht (lacht). In Venedig zu leben, empfinde ich aber trotz allem, trotz der 33 Millionen Touristen, als großes Privileg. Wenn man in der Antarktis leben müsste, wäre es schlimmer (lacht).
Sie sprechen es an: In Venedig zeigt sich, wie der Tourismus eine Stadt zerstören kann. Sind Sie als Anwohnerin wütend über die Entwicklung?
Sie ist das Ergebnis der Stadtpolitik, eines unfassbaren Zynismus und des Neoliberalismus pur, der sich vor unseren Augen abspielt. Alles wird verscherbelt und privatisiert. Der linke Bürgermeister Massimo Cacciari hat dafür in den 1990ern den Weg geebnet. Heute heißt das Zauberwort »Nutzungsbestimmung«. Die Unterschrift eines Bürgermeisters genügt und ein denkmalgeschützter Palazzo kann ruckzuck in ein Einkaufszentrum umgewandelt werden.
Wie viele Leute kennen Sie, die noch im Zentrum von Venedig wohnen?
In Italien sagt man: Quattro gatti, vier Katzen, wenn da niemand mehr lebt. Die Venezianer wurden aus ihrer Stadt vertrieben, in Venedig leben nur noch 54.000 Einwohner. Man findet keine Mietwohnungen mehr, schon gar nicht, wer zwei kleine Kinder hat. Airbnb war der letzte Tritt, der Gnadenstoß für Venedig. Bei uns im Haus sind wir die Einzigen, die ständig dort wohnen, der Rest sind Ferienwohnungen. Wir sind nichts anderes als Hotelportiers, die den Airbnb-Kunden auch noch die Mülltüten wegräumen müssen.
Gleichzeitig arbeiten Sie auch auf der touristischen Schiene, wie ich es nennen möchte. Ist Ihr Buch »Alles über Venedig« kein Widerspruch zu Ihrer Tourismus-Kritik?
Nein, das sehe ich nicht so, mein Venedig-Buch ist kein touristisches. Ich habe beschrieben, was Venedig ausmacht, wo die letzten Spuren venezianischen Lebens zu finden sind. Denn bald werden auch die verschwunden sein.
Würden Sie Menschen noch raten, nach Venedig zu fahren?
Die Venezianer wünschen sich Besucher, die sich für die Stadt interessieren - und nicht nur für ein Selfie am Markusplatz. Die meisten rennen durch die Stadt wie durch ein kostenloses Disneyland. Es gibt viele Venezianer, die sagen: Wir möchten eigentlich auch gerne Geld dafür haben, dass wir die Statistenrolle einnehmen und das Ganze noch ein bisschen beleben. Venedig hätte sich noch vor wenigen Jahren anders entwickeln können. Dank der heutigen Kommunikationsmöglichkeiten war es kein logistischer Nachteil mehr, sich im Wasser zu befinden. Man hätte große Gebäude nicht in Hotels umwandeln müssen, man hätte auch Unternehmen anlocken können, wie in Berlin zur Zeit der Mauer, mit Steuererleichterungen. Aber man wollte das nicht, man wollte Venedig genau zu dem Freizeitpark machen, der es jetzt ist.
Wie kommt man da wieder raus? Wie kann man den Neoliberalismus überwinden? Das ist ja nicht nur eine Frage für Venedig.
Nein, das ist eine Frage für ganz Europa, für die ganze Welt letztendlich. Man sieht das große Unbehagen ja auch überall, auch in Frankreich bei den Wahlen. Und im Übrigen, was Marine Le Pen und die Front National betrifft: Dass die antisemitische ausländerfeindliche Rechte, die es in Italien sehr wohl auch gibt, nicht denselben Erfolg wie Le Pen in Frankreich hat, ist vor allen Dingen den Cinque Stelle zu verdanken. Sie haben Italien vor einem Rechtsruck bewahrt.
Das könnte sich bei Neuwahlen ändern. Die Lega Nord steht zumindest in Umfragen gut da.
Ja, die Lega Nord ist im Aufwind. Aber die Cinque Stelle sind inzwischen bei fast 30 Prozent in den Umfragen, wenngleich man nie weiß, wie die Leute letztendlich wählen. Immerhin wurden dank der Cinque Stelle viele Italiener in der Politik aktiv. Sie haben wieder das Gefühl, an der Politik teilhaben und auch etwas verändern zu können. Auch das ist ein Problem für ganz Europa Ich glaube, dass sich viele Menschen ausgeschlossen fühlen.
Gleichzeitig gibt es in Italien viele Basisinitiativen, die gegen Wohnungslosigkeit und Zwangsräumungen vorgehen oder sich gegen große Umweltprojekte wehren. Diese sind jedoch weitgehend parteiunabhängig. Warum schaffen sie es nicht auf die nationale Ebene und in die Parlamente?
Das liegt auch daran, dass die Italiener grundsätzlich extrem individualistisch und skeptisch sind. Viel soziale Arbeit wird von der Familie oder einem etwas erweiterten Kreis geleistet. Gerade was die Flüchtlingshilfe betrifft, gibt es viele Initiativen.
Engagement für die ankommenden Geflüchteten zeigen auch die Kirchen. Damit wären wie wieder bei Ihrem Roman, denn …
(lacht) Ja, ich muss immer lachen, wenn ich Kirche im Zusammenhang mit Flüchtlingen höre. Denn die Fälle, von denen ich jüngst gehört habe, sind alles keine Paradebeispiele. Auch in diesem Bereich zeigt sich die langjährige und erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Mafia und katholischer Kirche. Die Geschichte, die ich dazu in meinem Roman geschrieben habe, hat sich leider so ähnlich in Wirklichkeit abgespielt.
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