»Paramilitärs versuchen, das Machtvakuum zu füllen«
Leonardo González über die zunehmende Gewalt gegen soziale Aktivisten in den von der FARC-Guerilla verlassenen Regionen
Die kriegerische Auseinandersetzung zwischen der FARC-Guerilla und dem kolumbianischen Militär ist vorbei, doch die Gewalt hält an. Wer bringt die sozialen Aktivisten in Kolumbien um?
Die unmittelbaren Täter sind in den meisten Fällen Mitglieder illegaler bewaffneter Gruppen, die wir als Paramilitärs kennen. Die größte unter ihnen sind die Gaitanistischen Selbstverteidigungsgruppen Kolumbiens AGC. Aber wenn wir von Paramilitarismus sprechen, bezeichnen wir damit ein vielfältiges Netzwerk, einen paramilitärischen Komplex. Dieser Komplex besteht nicht nur aus mafiaähnlichen Organisationen teils unter Waffen, sondern auch Personen oder Gruppen, die an illegalen Aktivitäten wie Drogenhandel oder illegalem Bergbau verwickelt sind sowie Unternehmer mit wirtschaftlichen Interessen in einer Region. Diese Akteure unterhalten in unterschiedlicher Intensität Verbindungen zu Lokalpolitikern und Personen innerhalb der staatlichen Institutionen. Ohne diese Komplizenschaft des Staates wäre es beispielsweise schlicht unmöglich, auch nur ein Gramm Kokain außer Landes zu schaffen.
Was haben die ermordeten Aktivisten damit zu tun?
Im Unterschied zu der vorherigen Generation von Paramilitärs der 1990er- und Nullerjahre sind die bewaffneten Gruppen selbst keine von staatlicher Politik unmittelbar geförderten Kräfte und ideologisch sehr viel weniger anti-subversiv, sondern hauptsächlich an ihren Geschäften interessiert. Die bewaffnete Gruppe übernimmt zwar die Ermordung eines Aktivisten, doch der Tod dieser Person, die sich beispielsweise für die Rückgabe von Agrarunternehmen geraubten Ländereien oder den Schutz von Wasserquellen vor dem Bergbau einsetzt, ist oft im Interesse von stramm anti-linken Einzelakteuren beispielsweise innerhalb des Militärs oder lokaler Mächte. Diese Akteure zahlen den »Gefallen« der Ermordung mit einem anderen zurück, beispielsweise indem sie ein Auge zudrücken, wenn Drogen durch eine Region geschmuggelt oder illegal Bergbau betrieben wird.
Seit Jahresbeginn sind laut der Ombudsstelle für Menschenrechte der Regierung 52 soziale Aktivisten getötet worden. Zudem wurden in den vergangenen Wochen mehrere ehemalige FARC-Guerilleros ermordet, weshalb die UN-Sondermission in Kolumbien die Lage kürzlich als besorgniserregend bezeichnete.
Mit dem Rechtsanwalt Leonardo González vom Forschungsinstitut für Entwicklung und Frieden (INDEPAZ), das regelmäßig Analysen zum Thema veröffentlicht, sprach für »nd« David Graaff.
Wer sind diese »lokalen Mächte«?
Das ist abhängig von den wirtschaftlichen Interessen in jeder Region. In einer sind es Personen mit Interessen am illegalen Bergbau, in einer anderen Unternehmergruppen im Zuckerrohr- oder Palmölanbau oder der Viehwirtschaft, die dank ihres finanziellen und politischen Einflusses auf die Lokalpolitik die eigentliche Macht in dieser Zone ausüben. Das ist in Kolumbien sehr üblich. Diese oft kleinen lokalen Eliten sind es gewohnt, soziale und politische Konflikte mit sozialen Organisationen mit Gewalt zu lösen. Deshalb ist es nicht nur wichtig zu fragen, wer geschossen hat, sondern wer die Mächte hinter diesem Mord sind.
Nur wenige der Morde an den sozialen Aktivisten konnten bislang rechtlich aufgeklärt werden und für die Behörden existieren offiziell keine Paramilitärs. Woher wissen Sie, dass in vielen Fällen Paramilitärs hinter den Taten stecken?
Unsere Primärquellen sind nicht die Behörden, sondern die sozialen Organisationen selbst. Den Morden gehen meist entsprechende Drohungen voraus oder die Organisationen haben schon vorher Alarm geschlagen, dass die Gruppen in der Region aufgetaucht sind. Übrigens sind in den vergangenen Monaten besonders dort, wo sich die FARC mit ihrer Demobilisierung zurückgezogen haben, die meisten Morde geschehen. Sie versuchen, in diesen Regionen das Machtvakuum zu füllen.
In den Vereinbarungen von Havanna verpflichtet sich die Regierung gegen dieses Jahrzehnte alte Problem vorzugehen. Ein entsprechendes Gesetz, das die Gründung paramilitärischer Gruppen unter Strafe stellt, wird gerade im Kongress diskutiert. Wie sollte die Strategie aussehen?
So wie der Paramilitarismus eine vielfältige Allianz ist, so muss auch die Antwort auf ihn vielfältig sein. Eine notwendige Maßnahme sind entsprechende Gesetze. Doch der Staat muss auch dieser Kultur des Einfachen entgegentreten, in der politische und soziale Konflikte mit Gewalt gelöst werden und nicht nur mit Sicherheitskräften in die Regionen gehen, sondern mit verschiedenen Ministerien, die dazu beitragen die soziale Situation zu verbessern. Es kann nicht sein, dass die Kontrolle einer Gemeindeverwaltung für die Paramilitärs rentabler ist als eine erfolgreich verschiffte Ladung Kokain.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.