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Glossar der Gerechtigkeit

Von »Armut« bis »Wohlstand«

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 11 Min.

Armut

absolute Armut

Wenn von absoluter Armut die Rede ist, geht es heute meist um die in Unterentwicklung gehaltenen Länder. Der Begriff geht auf den früheren Weltbank-Chef Robert S. McNamara zurück, der »Armut auf absolutem Niveau« als ein »Leben am äußersten Rand der Existenz« beschrieb, in dem Menschen »unter schlimmen Entbehrungen und in einem Zustand von Verwahrlosung und Entwürdigung ums Überleben kämpfen« müssen. Als absolut arm gilt laut Weltbank, wer am Tag weniger als 1,90 US-Dollar zur Verfügung hat, wobei die unterschiedliche Kaufkraft von Währungen berücksichtigt wird. Wie bei der relativen Armut wird diese Grenze politisch bestimmt, es gibt an den Indikatoren immer wieder auch Kritik. Andere Maßstäbe für absolute Armut legt zum Beispiel das Entwicklungsprogramm der UNO an, das einen mehrdimensionalen Armutsindex berechnet. Laut der International Development Association der Weltbank ist für absolute Armut unter anderem auch eine durchschnittliche Lebenserwartung unter 55 Jahren und eine hohe Kindersterblichkeit von mehr als 33 Fällen pro 1000 Geburten kennzeichnend. Für das Jahr 2015 gab die Weltbank eine Zahl von etwas über 700 Millionen Menschen an, die global in extremer, absoluter Armut lebten, das sind 9,6 Prozent der Weltbevölkerung. Die UNO nannte für denselben Zeitraum eine Zahl von 836 Millionen absolut Armen. Das ist erschreckend viel, aber es ist auch deutlich weniger als noch vor Jahrzehnten - und zwar unabhängig davon, nach welchen Indikatoren für absolute Armut man sich richtet.

relative Armut

Ob jemand arm ist, wird heute nicht zuletzt als eine Frage des Verhältnisses zu anderen bestimmt - man spricht dann von relativer Armut. Diese bezeichnet eine bestimmte Differenz zu einem anderen Wert, meist dem Median des gewichteten Nettoäquivalenzeinkommens. Relative Armut ist also ein Maßstab für die Ungleichheit in einer Gesellschaft. Wer weniger als 60 Prozent dieses Wertes zur Verfügung hat, gilt als armutsgefährdet. Als Indikator zur Messung der relativen Einkommensverteilung kann die Armutsgefährdungsquote also auch steigen, wenn alle ein höheres Einkommen erhalten als in einem Vergleichsjahr, die oberen Einkommen aber schneller wachsen. Auch ein starker Migrationsschub und damit die Erhöhung der Zahl von Menschen, die durch ihren Status auf geringe Transferleistungen angewiesen sind, kann die Armutsgefährdungsquote steigern. Umstritten ist an diesem Indikator auch, dass Studierende mit einbezogen werden - die durch ihre Ausbildung meist bessere Chancen auf überdurchschnittliche Einkommen in späteren Jahren haben. Laut neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes lag die Quote der Betroffenen 2016 im Westen (ohne Berlin) bei 15 Prozent, im Osten bei 18,4 Prozent. Ein besonders hohes Armutsrisiko haben Erwerbslose und Alleinerziehende. Die bundesweite Armutsgefährdungsquote betrug im vergangenen Jahr 15,7 Prozent und lag damit deutlich über dem Wert von 2008 (14,4 Prozent). In absoluten Zahlen gilt heute als armutsgefährdet, wer als Alleinlebender 969 Euro im Monat zur Verfügung hat, für ein Paar mit zwei Kindern liegt der Wert bei 2035 Euro im Monat. Worüber die Armutsgefährdungsquote als Indikator für relative Einkommensarmut wenig Auskunft gibt, ist die durch sie bewirkte sozio-kulturelle Verarmung, die sich in fehlender Teilhabe an bestimmten sozialen Aktivitäten als Folge des finanziellen Mangels ausdrückt, etwa wenn man sich keinen Theaterbesuch leisten kann oder die Kinder deshalb auf Klassenfahrten verzichten müssen.

Abstiegsangst und Prekariat

Unlängst machte das Ergebnis einer Studie Schlagzeilen: Die Bundesbürger hätten so wenig Abstiegsangst wie seit der Wiedervereinigung nicht - knapp ein Drittel sorge sich vor dem Abstieg. Aber was ist damit eigentlich gemeint? Für Abstiegsangst gibt es keine exakte Definition, Menschen haben unterschiedliche Vorstellungen davon. Im Grunde geht es dabei um die Angst vor einer Abwärtsbewegung von einer sozialen Position, die ein bestimmtes Maß an Zugriff auf knappe Güter ermöglicht, in eine weniger wertgeschätzte und mit weniger materiellen und anderen Gütern ausgestattete Lage. Heutzutage ist dies eng an die Erwerbstätigkeit geknüpft, hinter der Abstiegsangst steckt also meist die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes. Nach dieser wird meist auch in entsprechenden Umfragen gefragt, etwa für das Sozio-ökonomische Panel SOEP. »Abwärtsmobilität« kann aber auch bedeuten, dass man selbst im Vergleich mit seinen Eltern eine »niedrigere« soziale Position einnimmt, statt, wie es lange Zeit für eine Mehrheit die Regel war, über diese durch Aufstieg »hinauszuwachsen« - etwa was den erreichten Bildungsgrad angeht. Verwandt mit dem Begriff der Abstiegsangst ist jener des Prekariats, mit dem vor allem in den Sozialwissenschaften die Milieus bezeichnet werden, die durch hohe Unsicherheit ihrer Art der Erwerbstätigkeit (Minijobs, Aushilfsarbeiten, Befristungen, Leiharbeit) oder ihrer Lebensverhältnisse gekennzeichnet sind. Der Begriff »Prekariat« wird aber auch kritisch gesehen, weil er die so Bezeichneten negativ markiert - ohne Aspekte wie Freiwilligkeit, Selbstbestimmung oder den individuellen Widerstand gegen prekäre Verhältnisse zu berücksichtigen.

Existenzminimum

Wie hoch ist der Grundbedarf eines Menschen für sein Überleben? Das ist wie bei der Armut eine relative Frage - und in Deutschland gibt es auch noch mehrere Begriffe des Existenzminimums: ein soziokulturelles, ein schuldrechtliches und ein steuerrechtliches. Das soziokulturelle Existenzminimum bezeichnet den Mindestbedarf, der unerlässlich ist, um bei sparsamem Wirtschaften am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Dieser Bedarf wird gesetzlich festgelegt, an die jeweiligen wirtschaftlichen Verhältnisse angepasst und ist politisch stets umstritten. Zur Gewährleistung des soziokulturellen Existenzminimums werden unter anderem Arbeitslosengeld II, Grundsicherung im Alter oder Hilfe zum Lebensunterhalt gezahlt. Das schuldrechtliche Existenzminimum bezeichnet den als unpfändbar geltenden Betrag des monatlichen Arbeitseinkommens, dieser liegt seit Juli 2017 bei 1133,80 Euro für eine alleinstehende Person. Wer Unterhaltsverpflichtungen hat, für den erhöhen sich die Freibeträge. Das steuerliche Existenzminimum drückt sich in den sogenannten Grundfreibeträgen aus, für die keine Einkommensteuer anfällt. Diese liegen derzeit bei 8820 Euro für Alleinstehende und 17 640 Euro für Verheiratete, 2018 werden die Grundfreibeträge 9000 und 18 000 Euro betragen.

Gini-Koeffizient

Wenn es darum geht, die Ungleichverteilung der Einkommen in einer Volkswirtschaft darzustellen, wird meist der Gini-Koeffizient verwendet. Er geht auf den italienischen Statistiker Corrado Gini zurück, der ein führender faschistischer Theoretiker war. Der nach ihm benannte Ungleichverteilungskoeffizient wird aus der sogenannten Lorenz-Kurve abgeleitet und beschreibt auf einer Skala von 0 bis 1 die Relation zwischen empirischer Kurve und der Gleichverteilungsdiagonalen. Also: Je höher der Wert, umso ungleicher ist die Verteilung. Für die Einkommen heißt das, der Gini-Koeffizient würde bei 1 liegen, wenn nur eine Person das komplette Einkommen erhält - und bei 0, wenn alle dasselbe Einkommen hätten. Laut der OECD lag der Gini-Koeffizient 2014 bei 0,31, im Jahr 2000 waren es noch 0,27. Die Ungleichverteilung der verfügbaren Einkommen hat also zugenommen. Zum Vergleich: In Deutschland lag der Gini-Koeffizient 2014 bei 0,29, in der Türkei war er mit einem Wert von 0,41deutlich höher. In Slowenien ist die Einkommensverteilung dagegen egalitärer, der Gini-Koeffizient lag dort bei 0,24. Andere Maßstäbe dafür sind etwa Quantilrelationen, die etwas über das Verhältnis zwischen den Einkommen bestimmter Gruppen aussagen, etwa die Palma-Ratio, die die Einkommenssumme der obersten 10 Prozent in Relation zur Einkommenssumme der untersten 40 Prozent setzt.

Materielle Deprivation

Wenn Sozialwissenschaftler von Deprivation sprechen, dann meinen sie damit allgemein einen Zustand der Entbehrung, der Benachteiligung. Das Wort stammt vom lateinischen deprivare - und bedeutet »berauben«. Von materieller Deprivation betroffen sind also Menschen, die aufgrund ihrer sozialen Lage unfreiwillig auf Dinge verzichten müssen, die von den meisten Menschen als wünschenswert oder gar notwendig für eine angemessene Lebensführung angesehen werden. In der EU-Statistik über Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) wird so der prozentuale Anteil jener Menschen gemessen, die sich aus einer Liste von neun Ausgaben (einen einwöchigen Jahresurlaub an einem anderen Ort, jeden zweiten Tag eine Fleisch-, Geflügel- oder Fischmahlzeit, angemessene Beheizung der Wohnung, langlebige Gebrauchsgüter wie Waschmaschine, Farbfernseher, Telefon oder Auto, Bedienung von Schulden, Rechnungen für Versorgungsleistungen wie Strom, Wasser, Gas und Mietkaufraten oder sonstige Kreditzahlungen) mindestens drei nicht leisten können. Von »erheblicher materieller Deprivation« spricht man, wenn sich Betroffene mindestens vier dieser Ausgaben nicht leisten können. Laut dem Statistischen Bundesamt schwankt die Zahl der Haushalte, die unter erzwungener Unterversorgung mit Alltagsgütern leiden und so in besonderem Maße einschränkt sind, seit 2005 um fünf Prozent.

Mittleres Einkommen

Wenn das Einkommen vieler Menschen beurteilt und vergleichbar gemacht werden soll, kommt oft das Medianeinkommen, das mittlere Einkommen, zum Zuge - es zeigt dasjenige Einkommen an, bei dem genauso viele Menschen mit einem höheren darüber liegen und genauso viele mit einem niedrigeren Einkommen darunter. Das Medianeinkommen hat also diejenige Person, die genau in der Mitte liegt, wenn man die gesamte Bevölkerung nach der Höhe ihres Einkommens auf einer Liste sortieren und in zwei gleich große Gruppen unterteilen würde. Das Medianeinkommen hat gegenüber dem Durchschnittseinkommen den Vorteil, dass Ausreißer nach oben nicht die ganze Stichprobe verzerren. Gegenüber dem arithmetischen Mittelwert zeigen Einkommensanalysen anhand des Medians auch besser Ungleichheiten an.

Reichtum

Was wir über Reichtum wissen? Zumindest das: Im Gotischen bedeutete rejks, woher der Begriff stammt, »mächtig« oder »Herrscher«. Was heutzutage Reichtum ist, lässt sich von verschiedenen Seiten beleuchten. Mal ist damit ein privat verfügbarer Überfluss großen Ausmaßes gemeint, mal die Gesamtheit der gesellschaftlich produzierten Dinge - die allerdings ungleich verteilt ist. Sehr reiche Menschen gehen in der Regel nicht selbst einer abhängigen Arbeit nach, sie eignen sich die Früchte der Arbeit anderer an. Man kann dies zum Beispiel am privaten Geldvermögen veranschaulichen - das wuchs im ersten Quartal 2017 weiter auf einen Rekordwert von rund 5676 Milliarden Euro an. Unterschieden wird oft zwischen einfachen Millionären, die zwischen 1 und 5 Millionen US-Dollar besitzen, und Ultra High Net Worth Individuals, die auf mindestens 30 Millionen US-Dollar kommen. In der Bundesrepublik gab es im Jahr 2012 etwas über eine Million einfacher Millionäre. Laut Statistischem Bundesamt hatten 2013 rund 17 400 der erfassten Einkommensteuerpflichtigen innerhalb eines Jahres Einkünfte von mindestens einer Million Euro - das waren knapp 2800 Steuerpflichtige mehr als 2010. Ihr Durchschnittseinkommen betrug 2,7 Millionen Euro im Jahr.

Verfügbares Einkommen

Einkommen ist nicht gleich Einkommen. Man unterscheidet in Primäreinkommen (bzw. Markteinkommen), das aus selbstständiger und unselbstständiger Arbeit bezogen wird, und dem verfügbaren Einkommen, bei dem einerseits sozialstaatliche Leistungen hinzukommen und andererseits Steuern abgezogen werden. Letzteres ist der Betrag, der den privaten Haushalten tatsächlich zur Verfügung steht. Um diese Beträge besser vergleichbar zu machen, wird meist das sogenannte Nettoäquivalenzeinkommen herangezogen. Dabei werden die Nettoeinkommen nach Zahl und Alter der Haushaltsmitglieder gewichtet. Das mittlere Nettoäquivalenzeinkommen lag 2015 laut EU-SILC bei 20 668 Euro; das durchschnittliche Nettoäquivalenzeinkommen betrug 23 499 Euro. Doch auch hier gibt es noch große Unterschiede in bestimmten Einkommensgruppen: Dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung zufolge sind die verfügbaren Haushaltseinkommen seit Anfang der 1990er Jahre bis 2014 zwar im Schnitt um mehr als zwölf Prozent gestiegen, der Median wuchs aber nur um neun Prozent - ein Hinweis darauf, dass nicht alle Einkommensgruppen gleich hohe Einkommenszuwächse verzeichneten. Während es für die obersten zehn Prozent beim verfügbaren Realeinkommen um knapp 27 Prozent nach oben ging, büßten die zehn Prozent der Haushalte mit den geringsten Einkommen im Vergleich zu 1991 real beim Einkommen acht Prozent ein.

Vermögen

Über die exakten Ausmaße des Reichtums weiß man nicht allzu viel, vor allem seit die Vermögensteuer nicht mehr erhoben wird. Die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamts kommt zu folgendem Ergebnis: Die Summe aller Nettogesamtvermögen hierzulande betrug im Jahr 2013 rund 4,9 Billionen Euro - im Durchschnitt waren dies rund 123.000 Euro je Haushalt. Im aktuellen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung heißt es freilich: »Betrachtet man die Vermögensverteilung, verfügen die obersten 10 Prozent über fast 60 Prozent des Gesamtvermögens.« Die Haushalte in der unteren Hälfte der Verteilung verfügen dagegen nur über rund ein Prozent des gesamten Nettovermögens. Zudem gibt es immer noch gravierende Ost-West-Unterschiede. Im Nettogesamtvermögen sind alle Formen von Besitz, Sparguthaben, Aktien, Investments, Sachwerte und so weiter zusammengefasst, abzüglich aller Verbindlichkeiten wie Hypotheken oder Kredite. Vermögensbildung erfolgt heute nicht zuletzt durch Erbschaften: Im Jahr 2015 wurden demnach fast 38 Milliarden Euro vererbt, Vermögenswerte von über 64 Milliarden Euro wurden verschenkt - dies gibt aber nur Auskunft über die von den Finanzverwaltungen veranlagten Vermögensübertragungen. Im Jahr 2016 gab es laut offiziellen Angaben 558 Transfers mit einem Wert von jeweils über 20 Millionen Euro, dabei wurden insgesamt 44 Milliarden Euro vererbt oder verschenkt - im Schnitt 78,7 Millionen Euro. Der größere Teil wurde dabei in kleineren Anteilen verschenkt, was einen bedeutend niedrigeren Steuersatz bedeutet.

Wohlstand

Wenn Angela Merkel spricht, fällt meist auch ein Satz - so oder so ähnlich: »Den Menschen in Deutschland ging es noch nie so gut.« Doch wie misst man so etwas? Meist wird von materiellem Wohlstand gesprochen, in der öffentlichen Debatte spielt dann das Bruttoinlandsprodukt BIP als Indikator die Hauptrolle. Es bezeichnet den Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen, die binnen eines Jahres in einem Land produziert wurden nach Abzug aller Vorleistungen. Wenn man die Änderungen aller Preise der Volkswirtschaft berücksichtigt, ist das reale BIP seit 1991 um über 30 Prozent gestiegen, das klingt nach wachsendem Wohlstand. Aber für alle? Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung veröffentlicht mit dem Nationalen Wohlfahrtsindex NWI einen alternativen Indikator, er bezieht anders als das BIP beispielsweise auch die Verteilung der Einkommen, den Ressourcenverbrauch, die Umweltbelastungen sowie Wertschöpfung durch Hausarbeit und zum Teil öffentliche Ausgaben für Gesundheit und Bildung mit ein - weil diese sich auch auf den Wohlstand auswirken. Während die Lage gemäß BIP immer besser zu werden scheint, zeigt sich im NWI ein anderes, wechselhafteres Bild. Trotz Steigerung in den letzten beiden Jahren lag der Wohlstand nach dem NWI im Jahr 2015 lediglich auf dem Niveau von 1995. Hauptgrund: die gestiegene Einkommensungleichheit.

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