Der große Böse oder frei von Schuld
Fünf Monate vor den Olympischen Winterspielen hat das IOC noch immer keine Konsequenzen aus dem Dopingskandal von Sotschi gezogen
Zwei Tage, zwei Meldungen. Und beide wollen so gar nicht zueinander passen. Zunächst hatte die »New York Times« (NYT) am Dienstag von einem internen Dokument der Welt-Antidoping-Agentur berichtet, in dem die WADA schreibt, dass sie 95 der ersten 96 untersuchten Fälle im russischen Dopingskandal nicht weiter verfolge. Einen Tag später fordert ein Zusammenschluss von 69 hauptsächlich westlichen Nationalen Antidoping-Agenturen (NADOs) - darunter die deutsche NADA -, dass Russlands Olympisches Komitee (ROC) von den Olympischen Winterspielen 2018 in Pyeongchang ausgeschlossen werden soll. Was stimmt nun? Ist Russland der große Böse oder von allen Anschuldigungen befreit?
Sehr wahrscheinlich stimmt keins von beiden. Der Report von Richard McLaren hatte 2016 mehr als 1000 Fälle aufgelistet, in denen russische Sportler vermutlich betrogen hatten. Der von der WADA eingesetzte Sonderermittler hatte sich allerdings darauf konzentriert, das System dahinter aufzudecken, und nicht die Schuld einzelner Athleten nachzuweisen. Dies sei Aufgabe der Sportverbände, und die tun sich schwer damit. McLaren listete sehr viele Zeugenaussagen, E-Mails und Tabellen, aber nur wenige positive Proben auf. Ohne konkrete Beweise haben viele Verbände aber Angst, Klagen gegen Sperren vor Gericht zu verlieren.
Die nationalen Agenturen schieben nach ihrem Treffen dieser Tage in Denver die Schuld dafür nach Russland. Schließlich hätten die dortige Regierung, das ROC und Dopingkontrolllabore den Zugang zu vermutlich belastenden Proben verhindert oder sie sogar tausendfach zerstört, um einen Nachweis von Manipulationen unmöglich zu machen. Russland sei auch der Bitte nicht nachgekommen, E-Mails, Server und andere Datenbestände auszuhändigen. Die WADA hat keine Macht, sie einzufordern, und die Russen haben offenbar keine Lust, von sich aus bei der Aufklärung zu helfen.
So lange Russland die Anschuldigungen von McLaren nicht akzeptiere und auch keine Gegenbeweise liefere, sollte das ROC nicht zu den Winterspielen eingeladen werden, fordern die NADOs nicht zum ersten Mal. Schließlich kulminierte der offengelegte Betrug mit vertauschten Proben bei den Spielen vor vier Jahren in Sotschi. »Funktionären, die Regeln gebrochen haben, sollten keine Akkreditierungen erteilt werden, wenn Sportler gesperrt werden«, heißt es in einem Forderungskatalog an das Internationale Olympische Komitee. Derzeit sende das IOC eine »zynische Botschaft, dass Personen aus favorisierten, Insider-Nationen nie zur Rechenschaft gezogen werden«.
Noch stehen mehr als 1000 Fälle aus. Viel hängt nun davon ab, wie hartnäckig die Verbände nach Beweisen suchen. Die NADOs kritisieren, dass Zeugen bisher kaum befragt werden. Die Verbände verwiesen darauf, dass der Hauptbelastungszeuge, der ehemalige Direktor des Moskauer Labors Grigori Rodschenkow, nicht zur Verfügung stehe. Dem widersprach dessen Anwalt Jim Walden in der NYT: »Dr. Rodschenkow ist gewillt zu kooperieren.« Bislang hätte aber nur ein Ermittler des IOC darum gebeten, von einzelnen Sportfachverbänden habe kein einziger angefragt. Rodschenkow lebt aus Angst vor Vergeltung in seiner Heimat an einem geheimen Ort in den USA. Für Interviews stehe er aber bereit, so sein Anwalt.
Die Forderung nach einem Ausschluss des ROC müsse keine unschuldigen Athleten treffen, stellte die NADA mit ihren Verbündeten am Donnerstag klar. So habe auch der Internationale Leichtathletikverband seinen russischen Ableger gesperrt, lasse aber Sportler starten, die nachweisen können, ausreichend von internationalen Kontrolleuren getestet worden zu sein. Eine solche Regelung könne auch für alle Wintersportler eingeführt werden.
Das IOC hält sich wie vor den Sommerspielen 2016 in Rio zurück. Damals schob es die Verantwortung an die Einzelsportverbände. Die Dachorganisation der Paralympics hatte hingegen alle Russen ausgeschlossen. Die Sperre wurde übrigens bis heute nicht aufgehoben.
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