Tänzertag in Tempelhof

Volksbühne Berlin

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 3 Min.

Wieder ein Mammutspektakel auf dem Flughafen Tempelhof - das zweite binnen einer Woche, nun aber »nur« noch von reichlich sechs Stunden Dauer. Diesmal hat die Volksbühne zum Thementag geladen. »A Dancer’s Day« zeigt, was den Tagesablauf eines Tänzers bestimmt, vom Eintrainieren über Schrittworkshop, Picknick und Kurzschlaf mit gedehntem Singen des Elvis-Evergreens »Can’t help falling in love« bis zur Vorstellung.

Diese, als Herzstück des Abends, ist zugleich eine Uraufführung. Boris Charmatz, Chefchoreograf im Haus am Rosa-Luxemburg-Platz und normalerweise frei in seiner Musikwahl, verbündet sich dabei erstmals mit einem klassischen Werk: Mozarts »Requiem«, unendlich oft dem Tanz anverwandelt und doch ganz trutzig in seiner Selbstbehauptung. Dass Charmatz vermeidet, sich dem monolithischen Todesgesang zu eng anzuschmiegen, sich ihm anzuvertrauen, kommt ihm zugute. Dennoch spaltet sein Ergebnis das Publikum.

Fast verloren im riesigen Raum des Hangar 5 nimmt sich die von Francis Kéré entworfene, aus Lottomitteln finanzierte Tribüne mit ihren 400 Plätzen aus. Ansonsten schiere Weite, in deren Zentrum heller Bodenbelag die Szene markiert. Eine Frau in rotem Glitzer rast stolpernd und stürzend auf die Fläche. Leis tönt das Requiem, bis Getöse es schluckt. Da toben 22 weitere Akteure heran, gehüllt in Kleidung vom Suspensorium bis zum Kostümteil. Sie kratzen sich, fuchteln, drehen, jeder befasst mit seinem Bewegungsmaterial. »10 000 Gesten« hat Charmatz für diese Choreografie angekündigt, keine davon in Wiederholung. Niemand wird das kontrollieren, mehr zählt, wie er mit der Musik umgeht und welche Atmosphäre er schafft. Und da scheiden sich die Geister.

Mozarts Messe, wiewohl unvollendet, beklagt den Tod, setzt ihm ein grandioses Denkmal. Auch in der 70-Minuten-Choreografie artikulieren sich Ängste, doch auf gänzlich andere Weise. Die Tänzer absolvieren rasante Läufe und wilde Sprünge, ohne zu kollidieren, sind in höchster Konzentration. Es gibt Jagden mit Innehalten, Standposen, Ballungen und Verklammerungen, Einzelaktionen und Gruppendynamik. Licht fällt raffiniert durch die Scheiben von außen ein. Dann aber wird der Gesang niedergeschrien und zertrampelt, bis nichts mehr zu hören ist. Gewaltgegurgel wider den Todesfrieden der Musik.

Oft drängen sich die Körper eng zusammen, schichten sich zum Leiberberg, der wieder in Individuen zerfällt. Mehrfach auch zieht es die Tänzer von der Szene in die Ferne des Raumes. Da wird es leis, die Menschen scheinen dem Boden zuzuwachsen, mischen sich dann unter die Zuschauer, beginnen zu zählen: ihre Lebensstunden, die Zahl ihrer Gesten? Zum »Sanctus«, ein Paar hatte sich im Kuss vereint, stehen die Tänzer verteilt im ganzen Hangar und lauschen dem Sieg Mozarts über das Menschengequirl.

Akzeptiert man, dass der Tanz sein eigenständiges Todesszenario entwirft, unabhängig von der Musik, ist »10 000 Gesten« vorzüglich getanzt und von eindringlich emotionaler Raumarchitektur.

Nächste Vorstellungen am 16. und 17. September

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