»Lebensschützer« marschieren gegen die Rechte von Frauen

Radikale Abtreibungsgegner demonstrieren in Berlin / Mit neuen Themen greifen Fundamentalisten in gesellschaftliche Debatten ein

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 4 Min.

Erneut treffen sich christlich-fundamentalistische Abtreibungsgegner und politische Unterstützer aus rechtskonservativen Kreisen zu ihrem sogenannten Marsch für das Leben. Zum 13. Mal bereits versammeln sich die selbst ernannten Lebensschützer am Samstag in Berlin. Ihr Motto lautet: »Die Schwächsten schützen: Ja zu jedem Kind.« Die harmlos und richtig klingende Parole verbirgt jedoch, dass Frauen ein Nein in dieser Frage auf keinen Fall zugestanden wird.

Ein lautes Nein kommt dagegen vom Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung, das am Samstag gegen die Abtreibungsgegner protestieren wird. Auch auf politischer Ebene gibt es kein eindeutiges Ja zum »Marsch des Lebens«. Zwar sandten auch in diesem Jahr noch ein halbes Dutzend Bundestagsabgeordnete der Union Grußworte. Der katholische Berliner Diözesanrat und die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg verweigerten jedoch ihre Unterstützung. Dafür positionierte sich der Münchner Kardinal Reinhard Marx im Namen der katholischen Bischofskonferenz eindeutig zustimmend - und dies nicht zum ersten Mal. Ob wieder AfD-Prominenz mitmarschiert, wie in den vergangenen Jahren etwa Beatrix von Storch, dürfte nicht entscheidend sein, hat die Partei den »Lebensschutz« doch längst in ihr Bundestagswahlprogramm gehoben. Darin wird abtreibenden Frauen vorgeworfen, sie würden das Lebensrecht ihres Kindes der »Selbstverwirklichung oder sozialen Zukunftsängsten« unterordnen. Die Rechtsaußenpartei erwägt hier gesetzliche Korrekturen. Ihre Position will sie auch in Schulbüchern und Lehrplänen vertreten sehen.

Zwar lösen die Positionen der »Lebensschützer« bei vielen Bürgern nur Kopfschütteln aus, doch vertreten erstere ihre Ansichten zunehmend offensiver. Konkret gab es um die Jahreswende in Niedersachsen zwei Konflikte, in denen der Zugang zu Abtreibungen eingeschränkt werden sollte. In einem Fall war es der christliche Krankenhauskonzern Agaplesion, der eine Zusammenlegung von Kliniken dafür nutzen wollte, keine Abtreibungen nach Beratungsregelung mehr durchführen zu müssen. Kommunalpolitiker sorgten für einen Kompromiss, indem sie ein ambulantes Operationszentrum mit niedergelassenen Ärzten auf dem Klinikgelände einrichteten.

Im anderen Fall verweigerte ein leitender Gynäkologe eines Krankenhauses im niedersächsischen Landkreis Lüchow-Dannenberg nicht nur Abbrüche, sondern wollte den Eingriff auch seiner Abteilung untersagen. Rückendeckung erhielt er von der Klinikleitung. Inzwischen verließ der Arzt das Haus »auf eigenen Wunsch«, die Weiterbeschäftigung des zunächst entlassenen Klinikleiters durch das Krankenhausunternehmen ist strittig.

In Stellung gebracht wurde in beiden Fällen die Gewissensfreiheit der Ärzte, die aus diesem Grund einen Abbruch verweigern können. Auch wenn schon immer einzelne Mediziner in den Reihen der Abtreibungsgegner zu finden waren, wird die Berufsgruppe aktuell noch mehr zum Ziel der Beeinflussung gemacht.

Ebenfalls angegriffen werden Beratungseinrichtungen: Das Familienplanungszentrum Balance in Berlin wurde zum Beispiel schon mehrmals in den vergangenen Jahren von »Lebensschützern« angezeigt - wegen angeblichen Verstoßes gegen den Paragrafen 219 Strafgesetzbuch, wonach für Schwangerschaftsabbruch nicht geworben werden darf. Da die Einrichtung aber das Recht hat, Informationen zu dem Thema zu veröffentlichen, wurde auf diese Anzeigen hin kein Ermittlungsverfahren eröffnet.

Auch wenn die juristischen Vorstöße bisher nicht erfolgreich waren, hält die Journalistin und Autorin Kirsten Achtelik die »Lebensschutz«-Bewegung dennoch für gefährlich, »weil sie tatsächlich versucht, den Zugang zum Schwangerschaftsabbruch einzuschränken, auf unterschiedlichen Ebenen und mit verschiedenen Strategien«. Es gehe nicht nur darum, einem Fötus Subjektcharakter zuzuschreiben oder Ärztinnen einzuschüchtern. »Häufig ist das Vorgehen kaum wahrnehmbar, es geschieht in Kirchengemeinden oder über das Internet. Hier stoßen Hilfesuchende auf Webseiten der Lebensschützer.« Für das Berliner Antifaschistische Archiv Apabiz haben Achtelik, Eike Sanders und Ulli Jentsch eine Studie erarbeitet, in der aktuelle Strategien der »Lebensschutz«-Bewegung unter die Lupe genommen werden. Die Untersuchung erscheint bald unter dem Titel »Kulturkampf und Gewissen« beim Gunda-Werner-Institut der Heinrich-Böll-Stiftung.

Schon für den Freitag hatte der »Bundesverband für das Leben« zu einer Fachtagung nach Berlin eingeladen. Unter anderem ging es um »Entfremdung in der Reproduktionsmedizin« und den genetisch optimierten Menschen im »Post- und Transhumanismus«. Die Themenwahl zeigt, dass die Abtreibungsgegner sich nicht mehr nur auf ihr Kernthema beschränken. Es geht auch um Sterbehilfe oder den ärztlich assistierten Suizid, außerdem um Gen- und Reproduktionstechnologien. Die Positionen greifen in die laufende kontroverse gesellschaftliche Debatte ein. Dabei wird versucht, Bündnisse mit Kritikern etwa aus der Behindertenrechtsbewegung einzugehen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!