Helga Grebing ist tot

Sozialdemokratische Traditionsströme, freiheitliche Arbeiterbewegung: Nachruf auf eine große, auf eine politische Historikerin

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 4 Min.

Wer sich einmal etwas näher mit der Geschichte der Sozialdemokratie befasst hat, kam an ihrem Namen nicht vorbei: Helga Grebing. Aus der Feder der Historikerin stammen Standardwerke wie ihre »Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung«, auf deren dtv-Ausgabe die Gesichter von Karl Marx und Ferdinand Lassalle prangten. Als Biografin von Willy Brandt sorgte sie maßgeblich mit dafür, dass eine »Berliner Ausgabe« seiner Reden, Briefe und Schriften zustande kam. Und nicht zu vergessen: der großartige Sammelband über den »Revisionismus«, in dem sie einer Geschichte des linken Denkens von Eduard Bernstein bis zum Prager Frühling nachforschte, das andere, die sich für die »echten Linken« hielten, ausgrenzen, stumm machen, verbieten wollten.

Nun ist Grebing im Alter von 87 Jahren in ihrer Geburtsstadt Berlin gestorben. In einer Arbeiterfamilie zur Welt gekommen, erlebte sie ihre Jugend in Pankow und dem Berliner Umland. Nach der Handelsschule machte sie das Abitur an einer Arbeiter-und-Bauern-Fakultät und begann ihr Studium: Geschichte, Germanistik, Philosophie und Staatsrecht. Schon damals SPD-Mitglied, verließ sie die DDR kurz vor deren Gründung und promovierte schließlich an der Freien Universität im Westteil der Stadt über das Zentrum und die katholische Arbeiterschaft in der Weimarer Republik.

Lektorin, politische Bildungsarbeiterin, Leiterin eines Studentenwohnheims, Tätigkeit an der Volkshochschule – Grebings Laufbahn war alles andere als eine klassische gradlinige Akademikerinnenkarriere. Auch für die Hessische Landeszentrale für politische Bildung war sie tätig. 1969 schließlich wurde sie mit einer Arbeit über »Konservative Kritik an der Demokratie in der Bundesrepublik nach 1945« habilitiert – die Gutachter waren namhafte Professoren: Iring Fetscher, M. Rainer Lepsius, Hans Herzfeld.

Anfang der 1970er Jahre wurde sie schließlich Professorin, erst in Frankfurt am Main, dann in Göttingen, später in Bochum. Dort hatte sie eine Professur für vergleichende Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung und der sozialen Lage der Arbeiterschaft inne. Zugleich war sie damit Leiterin des »Instituts zur Erforschung der europäischen Arbeiterbewegung«. 1995 schied sie aus dem aktiven Hochschuldienst aus.

Und blieb doch im politischen wie wissenschaftlichen Unruhestand. Das betraf nicht nur ihr Engagement in der Historischen Kommission beim SPD-Parteivorstand und in der Grundwertekommission. »Vielleicht muss über Utopieverlust nicht geklagt werden, wenn die Ergebnisse so ausfallen«, schrieb Grebing in einem Ende vergangenen Jahres erschienenen Sammelband über Utopien – und meinte damit ganz kritisch die Realität des Staatssozialismus, dessen Dogmatismus ihr ein Graus war. Von dessen Herrschaftspraxis und Scheitern sie sich aber nicht die Idee einer sozialistischen Möglichkeit rauben lassen wollte.

Perspektiven für eine neue Gesellschaft waren ihr mit Oskar Negt weniger utopische Konstruktionen, sondern sie setzte lieber auf begründete, wissenschaftlich abgesicherte Gesellschaftsentwürfe. Und machte freilich dann auch wieder geltend, dass in so einem Zusammenhang selbstredend »vergessene oder als utopistisch abgelegte Traditionsströme des Sozialismus in Europa« in die Erinnerung zurückgeholt werden sollten.

Diese Arbeit an der und mit der eigenen Geschichte war ihr, die sich als politische Wissenschaftlerin verstand, bis zuletzt wichtig. Noch in diesem Jahr kam in herausgeberischer Zusammenarbeit mit Klaus-Jürgen Scherer ein Sammelband über Fritz Sternberg zustande, dessen marxistisch inspirierten freiheitlichen Sozialismus sie schätzte.

Scherer hat eine schöne Anekdote über Grebing erzählt – wie diese ihm auf einer Tagung der »Hochschulinitiative Demokratischer Sozialismus« einen Zettel reichte, auf den sie geschrieben hatte: »Wenn wir so weiterdiskutieren wie jetzt, kommt der Sozialismus nie!« Es ist dies ein Zitat, das auf so viele der linken, an Veränderung interessierten politischen Kreise anwendbar wäre – die doch meist nur um sich selbst kreisen. Ein Zitat freilich, das zugleich über die humorvolle Persönlichkeit von Grebing Auskunft gibt.

Sternberg übrigens wollte sie »als Inspirator für eine Politik ‚links der Mitte‘« zurück in die politische Arena holen, ihn »wiederentdecken und ihn neu zu lesen«, so erinnert sich Scherer, darum sei es ihr gegangen: »angesichts des wieder globalen krisenhaften Kapitalismus, von seinen neuen vor allem ökologischen Grenzen, angesichts der neuen technologischen Revolution und von mehr Ungleichheit und erneut autoritär-faschistischen Tendenzen« doch eine andere Welt für möglich und machbar zu halten.

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