Zukunft

Leo Fischer über eine Science Fiction, in der die Träume von heute noch die von gestern sind

Inzwischen weiß man ja um die Halbwertszeit geschichtlicher Erkenntnis: Kaum 70 Jahre braucht es, bevor alle Lehren, die man aus historischen Ereignissen eventuell hätte ziehen können, aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht sind. Während die Erinnerung an die reale Geschichte verschwindet, ist die Kulturindustrie umso besessener von ihrer eigenen Vorgeschichte, von ihren Stoffen, Themen und Helden. Aus Prequels und Neuerzählungen der immer gleichen Inhalte wird ein neuer historischer Kosmos gebaut, der umso mächtiger wird, je weniger die Menschen von ihrer eigenen Vergangenheit wissen. Gerade die aktuellen Fernsehserien liefern Vorgeschichte nonstop: »Bates Motel« erzählt in mehreren Staffeln, wie Norman Bates zum »Psycho«-Mörder wurde, »Gotham« sucht nach den Ursprüngen von Batman und seinen Schurken.

Nun sind die ersten Folgen von »Star Trek: Discovery« herausgekommen. Noch vor der Ausstrahlung wurden der sehr diverse Cast und die Vormachtstellung weiblicher Heldinnen gelobt, hier schien die Neuschöpfung ganz auf den Spuren des ersten Star Trek. Doch schon das Setting enttäuscht: Wieder richtet sich der Blick der Science Fiction auf ihre eigene Vorvergangenheit. Chronologisch befinden wir uns vor Captain Kirk, aber nach den Ereignissen der Serie »Enterprise«, die auch schon das Star-Trek-Universum vor der Ursprungsserie erforschte. Es braucht also eine neue Serie, um die Vergangenheit zwischen zwei Vergangenheiten zu erforschen.

Entstanden ist eine Science Fiction ohne Zukunft, die Träume von heute sind noch die von gestern. In »The Next Generation« wurde seinerzeit ins Unverbindliche fantasiert, Handys und Tablets im Dauereinsatz sah man zuerst dort; auch zaghafte Überlegungen zu homo- und transsexuellen Identitäten fanden dort statt. Hier wurde tatsächlich darüber nachgedacht, was kommen könnte - in »Discovery« sehen wir hingegen eine öde Raumschlacht, die nicht ein einziges technologisches oder kulturelles Konzept vorstellt, das wir nicht schon dutzendfach gesehen hätten. Von dem kommunistischen Utopia von »The Next Generation« ist nichts mehr zu sehen; es ist eine banale Auseinandersetzung imperialer Mächte, ohne Hoffnung auf Besseres. Auch die makellose Ethik der Sternenflotte ist zugunsten rein taktischer Überlegungen aufgehoben. Und dafür, dass die Crew des Raumschiffs multiethnisch und antisexistisch dargestellt wurde, sind die Klingonen allesamt schwarz, brutal und verstehen nur die Sprache der Gewalt.

Science Fiction ist politisch. Die ersten kommunistischen Ideen entstanden in gesellschaftspolitischen Zukunftsprojektionen, in Beschreibungen idealer Gesellschaften und Utopien. Die Hoffnung auf ein besseres Morgen hat unzählige Menschen inspiriert und sie große Opfer in Kauf nehmen lassen. Nun suggeriert die Science Fiction, dass es eigentlich kein Morgen gibt, nur eine Fortsetzung des Kriegs aller gegen alle auf fernen Sternen.

Statt in die Zukunft zu schauen, erforscht die Kulturindustrie besessen ihre eigene Herkunft. Alles muss auserzählt, vollständig erklärt und begriffen sein. Das Grauen von »Psycho«, das nicht zuletzt auch aus der Unverständlichkeit der Psyche Norman Bates’ herrührt, wird mit zahllosen Theorien zu Trauma und Psychose unterfüttert, bis gar kein Schrecken mehr an ihm ist - man hat dem Mythos den Mythos genommen. Selbiges geschieht in Gotham - die bizarren Bösewichter des Batman-Universums werden brav mit den Mitteln des sozialpsychiatrischen Dienstes analysiert. Das ist die große Ansage all dieser Prequels und Previews, die sehr gut zu der Zeit nach dem Scheitern des Neoliberalismus passt: Wir können alles erklären. Es gibt zwar keine Zukunft mehr, aber die Schrecken der Vergangenheit werden brutalstmöglich aufgeklärt, so lange, bis sie nicht mehr als Schrecken erscheinen, sondern als notwendig. Und auch das, was euch hat träumen und hoffen lassen, war nur ein Effekt von storytelling - auch das erklären wir euch, ihr hattet in Wirklichkeit gar keine Träume. Nach der Dekonstruktion der Heroen der Kindheit bleibt von ihnen nichts zurück als Küchenpsychologie und Imperialismus.

Das Motto des Mythos seit der Antike ist: weiter, weiter; hat einer zu Ende erzählt, soll der nächste zu Wort kommen. Die Prequel-Industrie hingegen ist antimythologisch, sagt: Moment, und fügt noch eine Liste von Vorfahren und noch eine Hintergrundgeschichte an. Sie zwingt den Betrachter in eine ständige Gegenwart - ohne Alternative.

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