Das Zwiebel-Muster
Am Schauspiel Köln inszenierte Stefan Bachmann »Peer Gynt« von Henrik Ibsen
Vernunft? Ohne Rohheit leider nicht zu denken - der Fortschritt stampft gern nieder. Er ist ohne Unheil nicht zu haben, denn: Jeder Veränderer macht sich an irgendeinem Punkt seiner Vorwärtsbewegung einer fehlenden Befugnis schuldig. Ohne dass er ins Grübeln kommt, in Selbstzweifel. Das ist sie, die welt- und menschengreifende Peer-Gynt-Sehnsucht, diese elende Furchtlosigkeit vor dem, was uns übersteigt. Wir fassen gern ins Unfassbare, als wäre es eine gefügige Manövriermasse unserer Gestaltungskräfte. Die Wahrheit, der wir trotz allem nicht näherkommen, ist reichster Katastrophenstoff. Also witzig, wahnfördernd.
Das Stück von Henrik Ibsen ist das Drama des sich ewig hinausträumenden Menschen, der bedauerlicherweise immer - meint er - in die falsche Welt hineingeboren wird. Stets wähnt der Kluge, nur unter Blöden zu leben. Es kennt der Drängende keine Scheu vor zu viel Überblick und Informiertheit. Es denkt der Wissende, er benötige in seinem Belehrungsdrang keinen Demutsvorbehalt.
»Peer Gynt«. Am Schauspiel Köln inszenierte Stefan Bachmann. Ein Regisseur des eher sensiblen Spektakels, der unaufdringlichen Farben, der unzynischen Verdunklungen. Bei diesem Ibsen nun dreht der Schauspiel-Chef unbekümmert auf. Wird derb und deutlich. Die Penisse groß, die Brüste aus gehäkeltem Stoff, die Innerlichkeit (zunächst) sehr kleinportioniert. Das Universum ist ein Kuriosum der schrägsten Typen. Sehr passend zur Bühne von Olaf Altmann, der den Spielern eine sich drehende, angekippte Scheibe anbietet. Spiegelglänzende Erdrutschgeografie. Ein Raum zum Rennen, eine Steile zum Stürzen, ein Ort mit Oben und Unten. Die Mummen schanzen sich die Szenen zu, die Masken motzen. Wenn Peer seine Weltreisen macht, macht er allen und sich selbst doch nur was vor - mit dem Satz »Du lügst!« hatte ihn Mutter Aase, uns den Hintern und den Hinterkopf aus Lockenwicklern zukehrend, ins Leben gepresst und geschnauft. Ein Backenaufblaser, dieser Mannsjunge. Ein Prahl-Peer. So wird das bleiben.
Ibsens Stück ist das Porträt eines Taugenichts - und eines Egoisten, der alles will und zu allem taugt. Vielleicht wenig Fähigkeiten, aber gern zu allem fähig. Einer gleichsam mit Händen in den Taschen, der um das dröge Wirkliche einen Bogen macht - und dann ein norwegischer Faust wird, der den Bogen raushat, ihn raushält, den Ellenbogen. Ein ganzes Leben durchreist dieser Peer (in seinem Kopf), liebt, raubt, handelt mit Waffen, haust bei Trollen und unter Tieren, ist Reeder und Redner, spielt den König im Irrenhaus - bis er zwiebelschälend, zwiebelschmatzend, zwiebelreibend vor der Schalenfülle, aber doch Wesenlosigkeit seiner Existenz steht. Endlich verwirrt geworden ob dieser Belehrung durchs Leben. Das Zwiebel-Muster: kein Festpunkt erkennbar. Also nur nicht zu tief graben in den Tatsächlichkeiten, nur nicht zu ehrgeizig erkennen wollen, wer man sei.
Acht Spieler - Jörg Ratjen, Peter Miklusz, Nicolas-Frederick Djuren, Niklas Kohrt, Justus Maier, Max Mayer, Seán McDonagh, Marek Harloff - agieren in weit über dreißig Rollen. Auch die Frauen sind - Männer. Grobheit hinter Brautschleiern. Das jagt den Kitsch aus dem Stück, nimmt dem Männlichen wohltuend Muskel und Mystik. Peter Miklusz gibt die geliebte Solveig als rührend herbes Mädchen, das am Ende eines lebenslangen Wartestandes zur gespenstnahen Wiedergängerin wird: Wer alte Anschauungen aufforstet, alte Lieben recycelt, bittet Leichen zum Tanz.
Jörg Ratjen steigert sich zum Dauerposeur der Aufreißerei; sein weißblonder Peer, dieser rauschgetränkte Proletengrobian, ist umgeben von dem, was so einem Kerl ständig das Hirn besetzt: Freaks. Existenzieller Nörgel trifft auf eine Welt von Grusel und Gaukel. Viel Strickwolle fürs Norwegische, viel schrille Farbe fürs Reisen und Räubern und Raufen unterwegs. Die Sprache so versgebunden wie schnodderfrei. Im Gewusel plötzlich starke Bilder - Einsamkeit der Berge, Schwelgen unter Wüstensonne. Große Szenen - etwa der Schiffsuntergang, bei dem Edvard Grieg an Johnny Cash übergibt. Und Bachmann scheint dann mehr und mehr auch den Finsternis-Experten Joseph Conrad ins Boot zu holen. In den Tanz der Todesboten. Ins Schattenballett der ungeweinten Tränen - eines hartgesottenen Gynt, der schuldig wurde, ehe er weichgesotten, also unschuldig sein durfte.
Peer ist der Mensch, der sich auf der Szene vervierfachen, gewissermaßen vor sich selber in alle Richtungen fliehen kann, unter jedem Wind ein anderer, nur nicht er selbst. Ständig schwankt er, ob er immer durch die Mitte oder »außenrum« gehen soll. Eingreifen oder Flucht ergreifen. Am Ende droht auch ihm der Knopfgießer, der alles Leben einschmilzt. Was rettet, was erlöst? Sünden bekennen oder sie gar nicht erst begehen? Drei Stunden Wechselbad-Theater, das Bilder mitunter auch hinwirft, ohne sich um deren Verfugung zu sorgen. Es schreddert Pathos und Pädagogik, aber es sagt auch unumwunden lange Texte auf. In seinen besten Passagen ist es: im Garstigen anmutig, im Zeitschmerz spröde schön, und in der Empörung wider die moderne Massenorganisation der sensiblen Selbstfindlinge entfesselt wüst.
Nächste Vorstellungen am 7. und 17. Oktober
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