Schwarze Listen, schwarze Zeit

Johann Gross berichtet über die Charité in der Wendezeit

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 3 Min.

Es ist in der Wissenschaft wie im Wetter: Gefühlt ist jede Führungsposition hierzulande mit einem Menschen aus Süd- oder Westdeutschland besetzt. Doch wie man sich mitunter in den Temperaturen täuscht, so könnte auch der eine oder andere Chefarzt oder Professor inzwischen aus dem Osten kommen. Schließlich ist die Wendezeit, in der Osteliten mit einem Fußtritt aus Ämtern, Hochschulen und jedweden Leitungsgremien gejagt wurden, eine gefühlte Ewigkeit her.

Hautnah miterlebt hat diesen unwürdigen Prozess der langjährige Direktor eines medizinisch-diagnostischen Instituts, Johann Gross. Seit 1965 arbeitete er an Deutschlands berühmtester Klinik und steckte in der Wendezeit mittendrin in den Umbrüchen, Auseinandersetzungen und Abwicklungen. Zum Glück hat er sich durch die hektische Abfolge der Ereignisse nicht davon abhalten lassen, sich genaue Notizen zu machen, denen wir jetzt diese spannende Lektüre über den Elitenaustausch an der Charité verdanken.

Was zunächst mit der Forderung begann, alle leitende Mitarbeiter auf ihre Stasivergangenheit zu überprüfen sowie inoffizielle Mitarbeiter, Offiziere im besonderen Einsatz und Zuträger des Nachrichtendienstes sofort zu entlassen, auf die sich das gesamte Personal noch im Konsens verständigen konnte, artete bald in eine beispiellose Hetze, in Gerüchte, Verleumdungen, Vorverurteilungen und unflätige Medienkampagnen aus, deren Umfang und Infamie noch heute beschämen. So charakterisierte die »Bild«-Zeitung Anfang der 1990er Jahre die Charité als »Horror-Klinik« und schrieb: »Dr. Stasi, bitte in den OP! Sie führen immer noch das Skalpell - die Seilschaften des Todes. Stasi-Ärzte an der berühmten Klinik der Barmherzigkeit sollen noch nicht hirntoten Patienten Herz und Leber herausgeschnitten haben.« Selbst »ÄrzteZeitung« und »Spiegel« übernahmen unglaubliche Vorwürfe von krimineller Organbeschaffung, Zwangskastrationen, Hirnverstümmelung, Frühchentötungen und Vergleichen mit medizinischen Verbrechen während der Nazizeit. Sie stellten sich teilweise erst Jahrzehnte später als Unfug heraus, machten aber damals eine konstruktive Vergangenheitsbewältigung nahezu unmöglich. Und nicht nur gestandene DDR-Wissenschaftler, bald wurden überhaupt keine Ostdeutschen mehr in medizinische Leitungsfunktionen gelassen. Das war natürlich die beste Vorbereitung für die Übernahme zahlreicher gut dotierter Charitéposten durch Konkurrenten aus dem Westen, die sich der Tatsache, dass Geld für die Wissenschaft nur einmal verteilt werden kann, durchaus bewusst waren, den Stasimärchen nur allzu bereitwillig glaubten und kräftig zu ihrer Verbreitung beitrugen. International angesehene Mediziner verließen von sich aus das Haus, einige wurden rausgeschmissen, nachdem man sie zunächst auf der Grundlage absurder Berichte aus der Gauck-Behörde auf schwarze Listen geschrieben hatte.

So wurde auch der ehemalige Charité-Dekan Heinz David ungerechtfertigt der Stasimitarbeit bezichtigt. Können Menschen wie er jemals eine andere Arbeit bekommen, wurde Joachim Gauck als Chef der Stasiunterlagenbehörde damals in einem Interview gefragt. Gauck antwortete: Lasst ihn Müll sammeln, außer natürlich, die Müllfahrer wollen nicht mit ihm arbeiten. Welche Menschenverachtung spricht aus diesen Worten eines späteren Bundespräsidenten.

Nicht jeder Betroffene verkraftete solcherlei Demütigungen. Gross schildert die Umstände des Suizids von Dr. Rudolf Mucke, der von der Eisenbahnbrücke zwischen Berlin-Treptow und Berlin-Neukölln in den Tod sprang, weil er denunziert worden war. Vollkommen zu Unrecht übrigens.

In Ostdeutschland wurden 22 000 Wissenschaftler abgewickelt. Auch für Gross war dieses Schicksal vorgesehen. Er setzte sich erfolgreich zur Wehr und arbeitete bis 2010 in einem Forschungslabor der Charité.

Johann Gross: Wendezeit an der Charité. Eine Dokumentation zum sogenannten Elitenaustausch. Verlag am Park/Edition Ost, 318 S., br., 19,99 €.

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