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- Parlamentswahlen in Österreich
In Österreich fehlt ein Roosevelt
Der Wiener Ökonom Stephan Schulmeister über eine zerrissene ÖVP, Politik der Gefühle und die »neue« FPÖ
Herr Schulmeister, wie würden Sie die Situation in Österreich kurz vor der Wahl beschreiben?
Kurzgefasst: Es vertieft sich eine für Österreich untypische Polarisierung, die viel damit zu tun hat, dass - noch stärker als in Deutschland die CSU - die traditionell christlich-soziale Partei, die ÖVP, nach rechts abdriftet. Rechts heißt hier, dass eine Politik der Gefühle betrieben wird, die die Verunsicherung und Verbitterung vieler Menschen gegen Flüchtlinge, Migranten und Nutznießer des Sozialsystems richtet.
Politik der Gefühle?
Wenn eine Krise schon Jahrzehnte andauert, dann nehmen schleichend, aber unaufhaltsam Gefühle zu: Da stimmt etwas nicht, da läuft etwas aus dem Ruder. Diese Gefühle müssen kanalisiert werden. Das kann man machen durch Aufklärung. In der Geschichte war so ein Aufklärer Franklin D. Roosevelt, der sehr wohl Gefühle angesprochen hat, aber den Menschen eben erklärt hat, wie sie in die miserable Lage gekommen sind. Anders als Populisten, die Gefühle gegen noch Schwächere richten.
Stephan Schulmeister ist Ökonom und unterrichtet an der Universität Wien und der Wirtschaftsuniversität Wien. Er war zeitweise als Wissenschaftler in den USA und beim Internationalen Währungsfonds (IWF) tätig. Mit ihm sprach Nelli Tügel.
Sie sagen: Wenn eine Krise schon Jahrzehnte andauert… Ist Österreich denn in einer Krise?
Österreich ist ja keine Insel, sondern Teil Europas. Und Europa ist seit etwa 40 Jahren ganz langsam in eine Krise hineingeschlittert. Ich nenne das eine Strangulierungskrise - im Gegensatz zur Weltwirtschaftskrise. Beide Krisen haben ähnliche Ursachen: Finanzkrisen, Sparpolitik, verstärkt durch Kürzungen des Arbeitslosengeldes und durch Lohnkürzungen, dann zunehmender Nationalismus. Die Zutaten sind also ähnlich. Aber die Strangulierungskrise hat sich ganz langsam entwickelt. Und sie hat die Dinge immer enger werden lassen.
Enger?
Na, wenn Sie die Lage junger Menschen betrachten, dann können die sich beispielsweise gar nicht mehr vorstellen, dass man problemlos Vollbeschäftigung ohne prekäre Arbeitsverhältnisse in ganz Europa haben könnte. Das können sich die meisten Leute nicht mehr vorstellen. Dabei wäre das ohne Weiteres möglich.
Darauf komme ich zurück. Aber noch mal zur ÖVP. Das ist ja auch eine traditionsreiche, verwurzelte Partei. Es ist schon bemerkenswert, dass dann so ein 31-Jähriger daherkommt und in kurzer Zeit alles umkrempelt. Was ist da passiert?
Die Zerrissenheit der Traditionsparteien - sowohl der Sozialdemokratie, als auch der christlich-sozialen Parteien - zwischen ihren weltanschaulichen Wurzeln und dem neoliberalen Zeitgeist beschädigt diese Parteien seit mindestens 25 Jahren. Und dieser Prozess der Zerrissenheit hat auch in der ÖVP gearbeitet.
Inwiefern?
Die ÖVP besteht aus drei Bünden: dem Wirtschaftsbund, dem Arbeitnehmerbund und den Landwirten. Klar, dass dann die inneren Spannungen zunehmen. Und das hat jetzt der Herr Kurz zugedeckt durch den gemeinsamen »Außenfeind« - Flüchtlinge, Frau Merkel und so weiter. Was Kurz damit versucht, ist ja nicht nur, alle Österreicher anzusprechen, sondern es geht auch darum, die ÖVP so für eine gewisse Zeit zu einen. Indem die Widersprüche zugekleistert werden. Auch das im übrigen ist ein Merkmal schwerer Krisen.
Sie sagen, was sich da in Österreich abspielt, habe mit Prekarisierung und dem Abbau des Sozialstaats zu tun. Aber Rechtspopulismus ist gerade auch dort erfolgreich, wo die Konjunktur gut ist und relativer Wohlstand herrscht. Erleben wir in Europa Wohlstandschauvinismus?
Nein, überhaupt nicht! Dahinter steckt Angst. Ich nenne die Menschen, die Rechtspopulisten wählen, manchmal die Nochnichtdeklassierten. Das sind Menschen, die sehr wohl eine einigermaßen gesicherte Existenz haben, die aber beispielsweise an ihren Kindern merken: Die nächste Generation hat’s schlechter. Und wenn dann ein solcher Prozess von den europäischen Institutionen befördert wird - weil leider Gottes die Regeln wie die Maastricht-Kriterien dem Motto »Markt gut, Sozialstaat schlecht« folgen - dann führt das zu einer ganz schwierigen Situation.
Nämlich?
Nämlich, dass unsere Europäische Union schrittweise genau das zerstört, was sie hätte einen können. Das Gemeinsame in Europa ist die Sozialstaatlichkeit. Das war einst die Innovation Europas im Vergleich zu allen anderen Regionen in der Welt. Und das wird durch neoliberale Ideologie beschädigt und in Südeuropa zerstört. Und wenn sie den Menschen wegnehmen, was ihnen ein bisschen Sicherheit gibt im Leben - ja, dann werden Ängste und Aggressionen frei.
Die Gefühle wieder…
Genau, und dann ist die Frage: Wer spricht diese Gefühle wie an? Wir haben in Europa nahezu keinen Typus Roosevelt. Also jemanden, der sagt: Eure Gefühle der Verbitterung sind berechtigt. Aber ich erklär euch jetzt, wieso es dazu gekommen ist und wie man es besser macht. Solche Politiker gibt es nahezu nicht.
Sondern stattdessen?
Stattdessen haben wir Politiker, die erst die rechten Verführer und deren Wähler in einen Topf geworfen haben, die dann gemerkt haben, dass das so auch nicht geht und im nächsten Schritt selbst rechtspopulistisch werden - statt sich Gedanken zu machen, was denn ihr Anteil daran ist, dass immer Menschen Angst haben trotz gewissen wirtschaftlichen Aufschwungs.
Kommen wir mal zurück nach Österreich. Was möchte denn Kurz wirtschafts- und sozialpolitisch? Und was will die FPÖ?
Auffällig ist: Die Wirtschaftsprogramme beider Parteien sind nahezu identisch. Sie wollen massivst Steuern senken, sagen aber nicht genau, wie sie das finanzieren wollen. Die FPÖ ist da sogar etwas klarer, die will fünf Milliarden Euro - für österreichische Verhältnisse eine erhebliche Summe - im Gesundheits- und Sozialbereich einsparen. Die ÖVP sagt nichts dazu. Mir scheint: Herr Kurz möchte an die Macht. Ob das Programm nur Mittel zum Zweck ist und nach der Wahl vergessen wird, kann ich nicht beurteilen. Ich befürchte aber, dass es realisiert wird, weil die Übereinstimmungen mit dem der FPÖ sehr groß sind. Und das bedeutet dann: Schwächung des Sozialstaats, Zunahme der Ungleichheit, weil die Steuersenkungen in erster Linie den Besserverdienenden zugutekommen und in der Folge eine weitere Schwächung des Sozialstaats.
Die FPÖ hat ja schon einmal regiert, 2000 unter ÖVP-Kanzler Schüssel. Was haben die damals wirtschaftspolitisch umgesetzt?
Das war ein Desaster. Nur distanziert sich Herr Strache davon, indem er sagt, damit habe er nichts zu tun, das seien die Zeiten des Jörg Haider gewesen. Da wurden Katastrophen verursacht, wie die Bankenpleite der Hypo Alpe Adria, die zwischen 15 und 20 Milliarden Euro kostet beziehungsweise kosten wird. Die Bilanz ist insgesamt verheerend. Aber der Herr Strache ist damit eben ganz gut umgegangen, indem er sagt: Das waren ja gar nicht wir.
Stimmt das?
Nein, die FPÖ ist noch die gleiche Partei. Allerdings hat sie sich stark in Richtung Unternehmerfreundlichkeit entwickelt, nur nicht in der Rhetorik. Das ist schon sehr verblüffend. In früheren Wirtschaftsprogrammen der FPÖ gab es durchaus auch konkrete Vorschläge zur Besserstellung der sozial Schwächeren. Heute liest sich das Wirtschaftsprogramm der Freiheitlichen als hätte es eine Industriellenvereinigung geschrieben. Das ist vor allem deshalb so grotesk, weil die FPÖ ja die Partei der kleinen Leute ist.
Und niemand bemerkt den Widerspruch?
Da wird drauf gesetzt, dass kaum jemand die Programme liest. In diesem Wahlkampf ist das Programmatische zusätzlich wegen diverser Schmutzkampagnen in den Hintergrund gerückt.
Die Regierungsbeteiligung der FPÖ galt 2000 als Tabubruch, es gab riesige Demos in Österreich; andere EU-Mitgliedstaaten waren besorgt. Wird es ähnlich sein, wenn die FPÖ nun wieder an die Macht kommt?
Nein, sicherlich nicht. In ganz Europa hat es ein langsames nach rechts Gleiten gegeben - Rechtsruck würde ich es nicht nennen, sondern eben Gleiten. Wohingegen das in Österreich 2000 tatsächlich ein Ruck war. Seitdem sind 17 Jahre vergangen, Europa ist heute anders aufgestellt. Strache und Kurz wetteifern, wer die besseren Kontakte zu Viktor Orbán hat. Die FPÖ will der Visegrád-Gruppe beitreten.
Die Frage ist nun, wie stark noch die Kräfte in den großen Ländern Europas sind, um das Europäische Projekt zu retten. Es ist massiv gefährdet, denn es wird wieder eine Finanzkrise kommen und dann geht es erst richtig los. Da braut sich etwas zusammen.
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