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Mister Rechtsruck: Michael Kretschmer
Die Nominierung Kretschmers als Sachsens neuer Regierungschef ist trotz dessen Wahlpleite ein logischer Schritt
Am Tag nach der Klatsche wirkt Michael Kretschmer ehrlich ratlos. Wie, so wird der 42-jährige CDU-Mann gefragt, soll es mit ihm persönlich weitergehen, nachdem er sein Mandat im Wahlkreis Görlitz mit 1578 Stimmen Rückstand an den Malermeister Tino Chrupalla von der AfD verloren hat? Kretschmer, der von einem »ordentlichen Magenschwinger« für sich und seine im Freistaat von der AfD geschlagene und also erstmals bei einer Wahl nicht siegreiche Partei spricht, zuckt die Schultern. Er wolle sich sortieren, sagt er. Einen Plan B nach dem abrupten Ende von 15 Jahren Abgeordnetendasein gibt es nicht.
Drei Wochen später ist der prominenteste Verlierer der CDU in Sachsen plötzlich ein Wahlgewinnler. Aus heiterem Himmel kündigte Ministerpräsident Stanislaw Tillich seinen Rücktritt an - und schlug Kretschmer als Nachfolger vor. Auch an der Spitze der sächsischen CDU soll dieser ihn beerben, wenn sie am 9. Dezember in Löbau einen neuen Vorstand wählt. Auch Kenner des Politikbetriebs in Sachsen verblüfft die Entscheidung. In Anspielung auf den Umstand, dass nur drei CDU-Kandidaten in Sachsen ihre Wahlkreise an die AfD verloren, fragt Antje Hermenau, Ex-Fraktionschefin der Grünen, was nun aus den beiden anderen werden solle: »Papst und Präsident?«
Hätte es nicht den »Magenschwinger« gegeben - die Kür hätte weniger überrascht. Kretschmer gilt seit langem als größtes politisches Talent der Landespartei. Schon seit der Wendezeit in der Jungen Union aktiv, hält er den Laden bereits seit 2002 im politischen Alltagsgeschäft am Laufen - als Generalsekretär, der er auf Vorschlag des damaligen Partei- und Regierungschefs Georg Milbradt wurde und unter dessen Nachfolger blieb.
Zugleich ist Kretschmer einer der in Berlin am besten vernetzten sächsischen Christdemokraten. Schon mit 34 wurde er einer der Vizechefs der Unionsfraktion im Bundestag, zuständig für Bildung, Forschung und Digitales. Kollegen aus anderen Fraktionen schätzen den agilen, als uneitel geltenden Sachsen; ähnlich sieht das dem Vernehmen nach die Kanzlerin.
Popularität im Raumschiff Berlin ist das eine; Beliebtheit bei Wählern oft etwas ganz anderes. Kretschmer freilich kann auch Bürgerkontakt. Im Wahlkampf lud er unter dem Motto »Verhört und gegrillt« in kleine Dorfkneipen zu Gesprächen und Gebratenem ein. Seine lockere, bubenhafte, manchmal schelmische Art kommt dabei gut an. Noch wichtiger: Der Abgeordnete hat sich auch außerhalb des Wahlkampfes den Ruf erarbeitet, fleißig zu sein und Dinge auf den Weg zu bringen - egal, ob es um die Euthanasiegedenkstätte Großschweidnitz geht oder um Videokameras, die in der Görlitzer Altstadt Einbrecher abschrecken sollen.
Das alles steht auf der Habenseite. Auf der anderen finden sich freilich gewichtige Einwände. Während sein Vorgänger vor dem Amtsantritt drei verschiedene Ressorts geleitet hatte, hat der Neue, der in den zwei Jahren bis zur Landtagswahl die Linie in einer nicht eben pflegeleichten Koalition vorgeben soll, noch nicht einmal ein kleines Ministeramt bekleidet. Ein Mandat im Landtag hat er ebenfalls nicht. Dazu: der Makel der Niederlage. Wenn überhaupt jemand damit rechnete, dass Tillich einen Erben nötig haben würde, dann fiel in Dresden der Name Thomas de Maizière, der in Berlin als Innenminister wohl nicht mehr gebraucht wird, seinen Wahlkreis in Meißen verteidigte und schon nach dem Rücktritt Milbradts als Anwärter gehandelt wurde; er scheiterte damals vor allem an seiner westdeutschen Herkunft. Dagegen wurde Kretschmer dieser Tage vielleicht als Finanzminister gehandelt für den Fall, dass Tillich als Reaktion auf die Wahlpleite nur sein Kabinett umfassend umbaut. Aber Ministerpräsident? Schwer vorstellbar. Der »Tagesspiegel« meint: »Wohl einzig das Alter spricht für Kretschmer.«
Womöglich aber hat es doch eine innere Logik, dass der scheidende Regierungschef nicht de Maizière, sondern Kretschmer auf das Tapet bringt - jenseits der Tatsache, dass auch dieser wie einst Tillich auf Wahlplakaten als »Sachse« beworben werden könnte. Die Begründung könnte so lauten: Tillich empfahl auf der Suche nach Antworten auf die Wahlpleite der ohnehin konservativen CDU in Freistaat einen weiteren Rechtsruck. Die Leute wollten, dass »Deutschland Deutschland bleibt«; die Union könne es »nicht nur über die Mitte« versuchen. Kretschmer, so ließe sich nun sagen, ist die Verkörperung dieser Linie - er ist Mister Rechtsruck.
Manche, die Kretschmer kennen, mögen darob den Kopf schütteln: Der unverheiratete, in einer festen Beziehung lebende Vater von zwei Kindern gelte bei vielen Kollegen als liberal, schrieb etwa die »Zeit« vor zwei Jahren - und zeichnete gleichzeitig das Porträt eines Politikers, der als »Wutbürgers Liebling« charakterisiert wurde: einer, der den Zorn und Frust der Bürger aufnimmt; der den Empörten nicht nach dem Mund redet, aber die CDU als Partei beschreibt, neben der es »rechts nichts Demokratisches geben« dürfe: »Wir müssen alle integrieren.« Dazu passt, dass Kretschmer vor einem Jahr als Mitautor eines »Aufrufs zu einer Leit- und Rahmenkultur« in Erscheinung trat, in dem sich sächsische CDUler und Kollegen aus der CSU für Heimat, Patriotismus und Leitkultur als »Kraftquelle« ins Zeug legten.
Mancher rätselt, ob Kretschmer das aus tiefer Überzeugung schreibt oder aus taktischem Kalkül. Die »Zeit« beschrieb ihn als Politiker, der zwei Rollen so perfekt beherrscht, »dass man mitunter glaubt, es mit einer gespaltenen Persönlichkeit zu tun zu haben«. Immerhin erweckt er auf die Art den Eindruck, eine Linie, eine Idee, einen Plan zu haben - etwas, das an Tillich stets vermisst wurde.
Ob er diesem im Dezember indes tatsächlich nachfolgt? Sicher scheint das noch nicht. Frank Kupfer, der Chef der CDU-Fraktion, kommentierte den Personalvorschlag knapp so: Der Anwärter sei »jung und dynamisch«, man werde mit ihm in der Fraktion »diskutieren«. Begeisterung und unbedingter Rückhalt klingen anders.
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