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Irakisch-Kurdistan droht zu scheitern
Nach dem Einmarsch der irakischen Armee bleibt es vorerst ruhig / Doch in der Autonomen Region kriselt es
Man sieht das Scheitern nicht. Nicht wenn man durch die Straßen Erbils läuft, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan (ARK). Bürohäuser und Einkaufszentren passiert man dann. Die Geschäfte: internationale Ketten, Markenwaren. Und nicht, wenn man in der Vielvölkerstadt Kirkuk unterwegs ist: Immer noch ist überall ein Sprachengewirr aus Arabisch, kurdischen Sprachen, es gibt mehrere davon, und turkmenisch zu hören. Und immer noch versuchen kurdische Polizisten in kurdischen Uniformen, für Ordnung zu sorgen, während in der Stadtverwaltung immer noch dieselben Mitarbeiter sitzen.
Bemerkenswert ist das, weil Anfang der Woche das irakische Militär in Kirkuk und Umgebung einmarschiert war, und die Peschmerga - das de facto-Militär der Autonomen Region - je nach Sichtweise »in die Flucht schlug« (so der irakische Ministerpräsident Haider al Abadi) oder »einen strategischen Rückzug notwendig machte« (der kurdische Regierungschef Necirwan Barsani).
Doch tatsächlich mehren sich die Anzeichen dafür, dass man sich wenigstens für den Moment auf einen Kompromiss geeinigt hat: Bagdad hat nun offiziell die Kontrolle über die Provinz Kirkuk. Aber Polizisten und Verwaltungsmitarbeiter, also die Gesichter des Staates in der Öffentlichkeit, bleiben Kurden. Und beide Seiten haben ihr Gesicht gewahrt.
Denn Barsani und sein Onkel, Präsident Masud Barsani, befinden sich in einer ausgesprochen schwierigen Lage: Das Projekt Irakisch-Kurdistan scheitert. Nachdem die Autonomie 2005 in der irakischen Verfassung festgeschrieben worden war, begann die ölreiche Region, die zudem auch noch den einzigen nennenswerten Grenzübergang zur Türkei auf ihrem Gebiet hat, zu florieren. Mehr als 1500 türkische Unternehmen, dazu europäische, amerikanische Firmen investierten; es wurde gebaut, unermüdlich, und bei den irakischen Kurden wuchs das Gefühl, wer zu sein, mehr zu sein: Immer wieder beschweren sich auch heute noch Menschen, man sei Zahlmeister des Irak, doch während man dies einst mit einiger Überheblichkeit sagte, mischt sich heute oft Bitterkeit in die Worte.
Denn überall in Irakisch-Kurdistan nimmt die Armut zu: Den westlichen Geschäften in den Einkaufsstraßen Erbils bleiben die Kunden weg. »Wenn es gut läuft, dann haben wir vielleicht zehn Kunden am Tag«, sagt ein Mitarbeiter einer westlichen Sportartikel-Kette. Dass diese Läden dennoch weiter existieren, liegt daran, dass die Regierung die Mieten subventioniert oder gar ganz erlässt; sie kann das relativ problemlos, weil die Familie Barsani nicht nur in der Politik sondern auch bei Immobilien Macht hat.
Bei den Löhnen ist man indes ausgesprochen knausrig: Beamte und Angehörige der Peschmerga bekommen derzeit offiziell 60 Prozent des vereinbarten Lohns ausgezahlt. Verantwortlich gemacht wird dafür, wie gesagt, vor allem Bagdad: »Die Regierung in Bagdad bürdet uns immer neue Lasten auf«, sagt Regierungschef Barsani. So habe das irakische Militär »kampflos« erlaubt, dass der »Islamische Staat« die Kontrolle über Mossul und Kirkuk übernahm. »Die Flüchtlingsströme, und die unterbrochenen Handelsrouten haben uns schwer belastet.« Bei der Vertreibung des IS hätten die Peschmerga einen erheblichen Teil geleistet, bezahlt aus kurdischen Kassen: »Und dann will Bagdad auch noch einen Großteil der Öleinnahmen.«
Doch es gebe noch eine andere Sichtweise, sagt Newschirwan Mustafa, Vorsitzender der Oppositionspartei Gorran, die sich selbst als »leicht links von der Mitte« bezeichnet: »Die Barsanis haben zugelassen, dass die Korruption fest im System verankert wurde, haben wichtige Entscheidungen ohne ordentliche Debatte getroffen.«
So war der einstige relative Wohlstand auf Pump gekauft: Investoren wurden von Steuern entlastet, stattdessen ließ sich die Autonomie-Regierung hochverzinste Darlehen von ausländischen Konzernen geben, die dann mit Öl bezahlt wurden. Zeitweise sorgte das für reich gefüllte Kassen, bis dann der Ölpreis kollabierte - und plötzlich mehr geliefert werden musste, um die Kredite zu bedienen.
Regierungschef Barsani hatte vor dem Unabhängigkeitsreferendum Ende September versprochen, dass sich damit die Verhandlungsposition gegenüber Bagdad verbessern werde; am Ende hatten nach offiziellen Angaben 93 Prozent der Wähler für die Unabhängigkeit gestimmt. Doch Bagdad sperrt sich und will, dass alles so bleibt wie es ist: »Wir haben weder das Personal noch die Expertise, um die Verwaltung in der Region zu übernehmen«, sagt der irakische Finanzminister Abdul Razzaq al Issa. »Es ist aber auch notwendig, dass die Kurden ihre wirtschaftlichen Probleme in den Griff bekommen«, so al Issa. Das Referendum habe das Gegenteil bewirkt: »Viele ausländische Unternehmen haben wegen der Unsicherheit ihre Büros geschlossen.« Daran hatte die irakische Regierung allerdings auch einen großen Anteil, indem sie die Flughäfen der Region für ausländische Airlines schloss.
In der irakisch-kurdischen Öffentlichkeit hat derweil - zum ersten Mal überhaupt - eine Debatte über die politische Zukunft begonnen. Und seit klar geworden ist, wie sich die Causa Kirkuk entwickelt hat, stehen auch die Barsanis in der Kritik, denen vorgeworfen wird, Entscheidungen ohne das Parlament zu treffen, das im September überhaupt zum ersten Mal seit zwei Jahren tagte.
Am 1. November hatte eigentlich die nächste Parlamentswahl angestanden; die wenigen zuverlässigen Umfragen, die es gibt, deuteten auf eine Niederlage der Demokratischen Partei Kurdistans hin, die seit 1946 fest in der Hand der Barsani-Familie ist. Die Wahl wurde mittlerweile abgesagt.
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