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Säbelrasseln, Selbstbestimmung, Völkerrecht
Ohne eine politische Lösung der kurdischen Staatsfrage wird es im Nahen Osten keinen Frieden geben
Es ist zwei Wochen her, dass mehr als 90 Prozent der Kurden in Nordirak in einem Referendum für die Unabhängigkeit ihres Landes stimmten. Was danach folgte, war absehbar. Das Säbelrasseln begann. Der türkische Präsident Erdogan verkündete, er wolle einen kurdischen Staat in Nordirak nicht dulden und stellte einen militärischen Einmarsch in Aussicht. Die türkische Armee veranstaltete zusammen mit Soldaten der irakischen Zentralregierung Manöver. Die irakische Regierung strich alle Flüge und bat die Türkei, die Grenzen zu Nordirak zu schließen. Erdogan wollte sich an die Spitze der Bewegung setzen und zusammen mit Irak, Syrien und Iran eine antikurdische Allianz gründen. Allerdings sind die Staatsoberhäupter diese Länder ihm seit seiner Unterstützung für den IS nicht gerade positiv gesonnen.
In Iran bekam Erdogan einen ersten Dämpfer. Der oberste Führer Irans Ali Chamenei empfing ihn nicht, sondern schickte lediglich den Industrieminister, um ihn vom Flughafen abzuholen. Eine Allianz zwischen der Schutzmacht der Schiiten und der der Sunniten ist überdies schwer vorstellbar. Mittlerweile fliegen auch wieder Linienflüge von Bagdad in die kurdische Hauptstadt Erbil.
Niemand will Krieg
Im Nahen Osten gehört Säbelrasseln zum Tagesgeschäft. In Wirklichkeit hat keine Seite ein ernsthaftes Interesse an einem Krieg. Mittlerweile sind die kurdischen Peschmerga bestens ausgebildet und kriegserfahren. Sie besitzen genügend Waffen, um sich gegen mögliche Angreifer zu verteidigen. Sowohl die syrische YPG, als auch die türkische PKK sind bereit, ihren Schwestern und Brüdern zu Hilfe zu eilen, sollte es zu einem Krieg kommen. In der Türkei würde das desaströse Folgen für die Stabilität des Landes haben. Auch Iran hat kein Interesse an einer Eskalation. Immerhin leben im Nordwesten Irans mehr als vier Millionen Kurden; 1946 gab es dort schon einmal eine kurdische Republik.
Es gibt im Nahen Osten aber auch einen Befürworter eines kurdischen Staats: Israel würde einen solchen Staat anerkennen, denn er wäre ein verlässlicher Verbündeter. Lebten doch einst in Nordirak kurdische Juden, die in den 1940er und 1950er Jahren nach Israel kamen und dort heute eine wichtige Gruppe darstellen. Außerdem unterstützt Erdogan offen die palästinensische Hamas. Da liegt es auf der Hand, dass Israel zu den Kurden hält, die mit Erdogan im Konflikt stehen.
Die Existenz eines kurdischen Staates im Norden Iraks hängt natürlich aber von den Großmächten ab. Insider sprechen davon, dass es Geheimverhandlungen mit den USA gibt, die den Staat Kurdistan anerkennen wollen. Nach der jahrzehntelangen Unterstützung der Amerikaner seitens der Kurden Nordiraks wird hier eine gewisse Gegenleistung erwartet. Darüber hinaus hat sich die Türkei unter Erdogan zu einem unsicheren Partner entwickelt. Ein kurdischer Staat im Norden Iraks würde den hegemonialen Machtanspruch Erdogans im Nahen Osten zumindest eindämmen.
Lange Kampf für Selbstbestimmung
Nach dem Ende des Osmanischen Reichs gab es bereits Bestrebungen, einen kurdischen Staat zu schaffen. US-Präsident Woodrow Wilson gewährte den Kurden ein Recht auf Selbstbestimmung. Im Vertrag von Sèvres von 1920 sollte Kurdistan eine Autonomie erhalten. Staatliche Unabhängigkeit wurde in Aussicht gestellt. Das kurdische Gebiet, auch Mossulgebiet genannt, sollte Teil eines größeren kurdischen Staates werden. Dies wurde von der jungen Türkei vereitelt, die ein Jahr später den Vertrag revidierte.
Die Provinz Mossul wurde aufgrund ihrer Ölvorkommen zum Spielball kolonialer Interessen und letztendlich von Großbritannien verwaltet. Im Jahr 1921 wurde zur Wahrung britischer Interessen das Königreich Irak gegründet. Bei der Grenzziehung waren vor allem die Öl- und Wasserquellen der Region relevant, ethnische oder Stammesverbindungen wurden ignoriert. Kurdistan wurde gevierteilt: Der Norden fiel an die Türkei, der Westen und Osten an die französischen Mandatsgebiete Persien und Syrien und der Süden an den britisch kontrollierten Irak.
Ein unabhängiger kurdischer Staat wurde damit verhindert, was vor allem im Interesse Großbritanniens und Frankreichs, aber auch der Türkei lag. Gegen diese willkürliche Grenzziehung lehnten sich die Kurden seither immer wieder auf. Bereits im Mai 1919 kam es unter der Führung des kurdischen Gouverneurs der Stadt, Sulaimaniyya, Mehmûd Berzincî, zu einem Aufstand und zur Ausrufung des Königreichs Kurdistan. Die Briten setzten dem im Mai 1924 ein Ende.
Im Jahr 1925 sprach der Völkerbund Mossul dem Irak zu, allerdings unter der Bedingung, dass die Wünsche der Kurden Berechtigung finden sollten. Die Kurden akzeptierten die Integration in einen irakischen Staat, angesichts der Zusicherungen der Engländer und der Iraker über eine kulturelle und administrative Selbstverwaltung. Doch diese wurden nicht umgesetzt. Dies zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte von Irakisch-Kurdistan. Einerseits wurden die Kurden in Irak als ethnische Gruppe mit einer eigenen Sprache weitgehend anerkannt; andererseits versprach der irakische Staat immer wieder Autonomie, die aber nie vollends umgesetzt wurde. Bis heute war keine irakische Regierung bereit, aufrichtige und substanzielle Zugeständnisse an die Kurden zu machen. Vielmehr zeigt sich deutlich ein Muster: Jede neue irakische Regierung hofierte die Kurden, um an die Macht zu kommen. Saß sie im Sattel, wurden die Kurden fallen gelassen.
Im Dauerkonflikt mit Bagdad
Gegen diese Politik der irakischen Zentralregierung gab es in den letzten 90 Jahren eine immer breiter werdende Widerstandsbewegung. Mustafa Barzani - der Vater des Präsidenten Kurdistans Masud Barzani - führte Anfang der 1940er Jahre einen Aufstand für die Autonomie von Irakisch-Kurdistan an und konnte sich lange Zeit mit einem Guerillakrieg militärisch behaupten. 1958 endete die Zeit der irakischen Monarchie mit einem Militärputsch. Der neue Irak definierte sich als Staat zweier Nationen - der Araber und Kurden. Jedoch wurden den Kurden keine Autonomie-Rechte zugestanden, weshalb sie sich 1961 erneut erhoben. Nach der Niederschlagung des Aufstands ersuchten die irakischen Kurden die UNO um Hilfe - vergeblich.
Mit der Machtübernahme der Baath-Partei fanden erneut Verhandlungen zwischen den Kurden und der Zentralregierung statt. Die führten jedoch zu keinem Ergebnis. Stattdessen startete die irakische Regierung zusammen mit syrischen Soldaten eine Offensive gegen die kurdischen Rebellen. 1970 endete der Konflikt vorläufig mit einem Abkommen über die Gründung und Anerkennung des Kurdischen Autonomen Gebietes in Irak. Während des irakisch-iranischen Krieges (1980 bis 1988) stand das kurdische Autonomiegebiet dann wieder unter der Kontrolle der irakischen Zentralregierung. Immer wieder erhoben sich die Kurden. Iraks Präsident Saddam Hussein betrieb im Gegenzug eine Politik der systematischen Ermordungen und Deportationen von Kurden. 1988 flog die irakische Luftwaffe einen Giftgasangriff auf die Stadt Halabdscha, bei dem 5000 Menschen starben.
Nach dem Aufstand von 1991 gab es in der kurdischen Region endlich eine De-facto-Autonomie. Noch vor der Verabschiedung einer neuen Verfassung Iraks wurde die Autonome Region Kurdistan von der Zentralregierung anerkannt. In der Verfassung selbst erhielt die kurdische Region eine nahezu vollständige Souveränität. Durch die militärischen Erfolge der Terrormiliz Islamischer Staat verlor die irakische Zentralregierung die Kontrolle über weite Teile ihres Landes. Die kurdische Regionalregierung nutzte dies, um Gebiete, die sie beanspruchte, nach der Rückeroberung von den Islamisten selbst zu kontrollieren. Dazu gehört die Stadt Kirkuk. Dort sollte bereits 1970 ein Referendum über die Zugehörigkeit zur kurdischen Autonomieregion stattfinden.
Und das Völkerrecht?
Deutschland verweigert den irakischen Kurden bei ihren Unabhängigkeitsbestrebungen die Unterstützung und argumentiert, eine Sezession der irakisch-kurdischen Gebiete würde gegen das Völkerrecht verstoßen, da es die nationale Integrität Iraks in Frage stelle. Irak ist ein Staat, dessen Grenzen 1921 gezogen wurden, um dadurch die kolonialen Interessen des Westens zu wahren. Die Kurden wurden mit falschen Versprechungen in das irakische Staatengebilde gelockt, das heute weniger denn je funktioniert. Dabei hat ein jedes Volk das Recht auf Selbstbestimmung - insbesondere wenn es, wie die Kurden, seit über 1000 Jahren einen Landstrich bevölkert. Dieses Recht wurde den Kurden bislang in Irak verwehrt.
Das Völkerrecht ist überaus flexibel, wenn es um die Anerkennung von Staaten geht, die sich vom Mutterland ablösen. Kosovo und Kroatien durften austreten, Katalonien darf es nicht. In der internationalen Politik gilt, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker mit dem Grundsatz der Staatenstabilität in Einklang gebracht werden muss. Eine Sezession wird akzeptiert, wenn sie Konflikte löst. Im Falle Kurdistans würde dies der Fall sein. Die Autonomie der Kurden widerspricht fundamental der Konstruktion des irakischen Staates, der auf der Ideologie einer zentralisierten, autoritären Herrschaft aufbaut. Ein Herauslösen Kurdistans würde diesen seither ungelösten Grundkonflikt endlich beenden.
Die Kurden wollen überdies keinen Nationalstaat im europäischen Sinne aufbauen, sondern einen föderalen, multiethnischen und multireligiösen Staat gründen. Ein solcher Staat wäre ein wichtiges Signal im von autoritären Regimen geprägten Nahen Osten. Der Westen täte gut daran, dies zu unterstützen, statt auf die Kontinuität einer imperialen Kolonialpolitik zu setzen.
Staatsgründungen sind immer langfristige Prozesse. Ein Referendum kann nur ein erster Schritt sein. Nach dieser erfolgten Legitimation muss es Gespräche zwischen beiden Parteien geben. Der französische Staatspräsident Emmanuel Marcron hat bereits die Kurden und die irakische Zentralregierung zu einem Dialog nach Paris eingeladen. Denn eines ist klar: Ohne eine politische Lösung der kurdischen Staatsfrage wird es im Nahen Osten keinen Frieden geben. Darüber hinaus dürfte mittlerweile allen bewusst sein: Die Kurden werden niemals aufhören, für ihren eigenen Staat zu kämpfen.
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