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  • G20-Gipfel und die Folgen

Wenn der Rauch verflogen ist

Mehr als drei Monate sind seit dem Hamburger G20-Gipfel vergangen - Beteiligte und Experten streiten noch immer

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 9 Min.

Gewalt der Demonstranten

Unbestreitbar ist, dass es im Zuge des G20-Gipfels neben friedlichen Großdemonstrationen und Aktionen des zivilen Ungehorsams wie Blockaden auch direkte Gewalt seitens der Protestierer gab. Diese zeigte sich etwa in belegten Stein-, Flaschen- und Böllerwürfen sowie in Sachbeschädigungen und Plünderungen. Laut Polizeiangaben wurden 476 Beamte verletzt. Recherchen des Onlineportals »Buzzfeed« ergaben jedoch, dass nur 21 Beamte einen Tag oder länger dienstunfähig waren. Dutzende Polizisten hätte man zudem wegen »Dehydrierung«, »Kreislaufproblemen« oder dem Kontakt mit Reizgas verletzt gemeldet. Der Polizeiforscher Rafael Behr von der Akademie der Polizei Hamburg geht davon aus, dass mehrere Beamte ihr eigenes Reizgas eingeatmet hatten, als es von Demonstranten zurückgeworfen wurde.

Im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stehen vor allem die Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizisten im Stadtteil Altona am Morgen des 7. Juli sowie im Schanzenviertel in der Nacht zum 8. Juli. In Altona war eine Gruppe von rund 200 zum Teil vermummten Demonstranten von Wasserwerfern und einer Hundertschaft auseinandergetrieben wurden. Es kam zu ungefähr 60 Festnahmen, mehrere Demonstranten verletzten sich, als sie bei der Flucht einen Abhang herunterstürzten. Nach Polizeiangaben hatte die Menge zuvor die Beamten »massiv« mit Steinen und Pyrotechnik attackiert - Demonstranten, Journalisten und linke Abgeordnete zweifeln diese Sicht bis heute an. Ein Polizeivideo des Einsatzes ist umstritten.

Rund um das Schanzenviertel gab es am damaligen Freitagabend wiederum in einigen Straßenzügen über mehrere Stunden hinweg schwere Auseinandersetzungen, zum Teil feierten Menschen aber auch zeitgleich in demselben Gebiet. Mehrere Geschäfte wurden in dieser Zeit geplündert. Ein vermuteter »Hinterhalt« auf den Dächern des Viertels, mit dem die Polizei ihr zu Beginn langes Zögern und später das Eingreifen von Sondereinsatzkommandos begründete, konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Die Polizei räumte Anfang Oktober in einer Antwort auf eine Anfrage der Hamburger LINKEN-Abgeordneten Christiane Schneider ein, dass »nach derzeitigem Kenntnisstand« keine Molotowcocktails, Gehwegplatten, Steine oder Eisenstangen als Beweismittel gesichert wurden. Man halte jedoch an der grundsätzlichen Darstellung der Abläufe an jenem Abend fest, nach der es »massive Angriffe« auf Beamte gegeben habe.

Die Schäden durch die Randale sind derweil nicht so groß wie bisher angenommen. Von dem bereitgestellten Hilfefond über 40 Millionen Euro werde voraussichtlich nur »ein mittlerer einstelliger Millionenbetrag« in Anspruch genommen, teilte der Hamburger Senat Anfang Oktober mit.

Ende September führte die Staatsanwaltschaft 319 Ermittlungsverfahren gegen namentlich bekannte Verdächtige. Der Hamburger Polizeipräsident Ralf Martin Meyer gab an, dass er insgesamt 3000 Verfahren erwarte. Die Rote Hilfe hält dies für übertrieben. Die Sonderkommission »Schwarzer Block« wertet nach eigener Aussage 25 000 Einzelvideos sowie 7000 Hinweise aus der Bevölkerung aus.

Militanzdebatte in linker Szene

Im Nachgang der G20-Proteste kam es in linken Medien, darunter auch im »nd«, zu einer Debatte über Militanz als Mittel der politischen Auseinandersetzung. Auch linksradikale Organisationen meldeten sich zu Wort: »Das beliebige Abfackeln von Kleinwagen stillt zwar den Hunger nach Revolte, bietet aber weder Hoffnung noch Solidarität an. Mit politischen Konzepten, die das für Strategie halten, müssen wir in die Debatte gehen - aber ohne sie zum neuen Hauptproblem zu erklären«, erklärte etwa Emily Laquer von der Interventionistischen Linken in der Zeitung »Analyse und Kritik«.

Das »Ums Ganze«-Bündnis plädierte in einer Erklärung für »Manöverkritik« an der »Macker-Scheiße«, zu der es während der Randale gekommen sei. »Am Ende des Tages ist jeder Riot nur so gut, wie die gesellschaftliche Organisierung und deren Verankerung im Alltag«, hieß es.

Kritischer zeigte sich das autonome Hamburger Hausprojekt »Rote Flora«: Bereits im Nachgang der Randale erklärte Sprecher Andreas Blechschmidt: »Wir haben den Eindruck gehabt, dass hier eine Form der Militanz auf die Straßen getragen wurde, die sich an sich selbst berauscht hat. Und das finden wir politisch und inhaltlich falsch.« Michael Brie, Philosoph und Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung, wies im »nd« auf die Gefahr einer Romantisierung des Aufstands hin: »Wenn [...] eine der Gruppen der Linken eine Strategie und Taktik wählt, die die aller anderen Kräfte einer Mosaik-Linken ad absurdum führt [...], dann wird diese eine Gruppe unvermeidlich zum aktuellen Haupthindernis.«

Gewalt der Polizei

Demonstranten, Anwälte und Journalisten berichteten von zahlreichen verbalen und körperlichen Polizeiübergriffen während der Protesttage. Redakteure vom »nd« erlebten zudem, wie Beamte den parlamentarischen Beobachter Norbert Hackbusch attackierten. Der Republikanische Anwaltsverein (RAV) erklärte, dass Anwälte innerhalb und außerhalb der Gefangenensammelstelle von Polizisten behindert wurden. Oftmals hätte man sie nicht zu Beistandssuchenden vorgelassen oder körperlich angegriffen.

Auf der Webseite www.g20-doku.org sammelten Nutzer Videos und Fotos als vermeintliche Beweise der Übergriffe. Die Authentizität des Materials lässt sich nicht immer klären. Offiziell gibt es Ermittlungen gegen 95 Polizisten, der Großteil wegen Körperverletzung im Amt. Mitte Oktober hieß es von der Staatsanwaltschaft, dass bereits zwei Verfahren gegen Beamte eingestellt worden sind.

In einem Fall hatte das Hamburger Verwaltungsgericht das Vorgehen von Polizisten bereits als rechtswidrig eingestuft: Ein Bus mit 44 Jugendlichen, viele von der sozialistischen Jugendorganisation »Die Falken« und der Grünen Jugend, war von Beamten noch auf dem Weg zu einer angemeldeten Demonstration gestoppt wurden. Die Insassen brachte man zu einer Gefangenensammelstelle, wo diese stundenlang warten und sich zum Teil nackt untersuchen lassen mussten. Nach zwei erfolgreichen Musterklagen forderte Paul Erzkamp, der »Falken«-Verbandschef von Nordrhein-Westfalen, 15 000 Euro Entschädigung von der Stadt Hamburg.

Der Großteil der Kritik an der Polizei, unter anderem vom RAV und dem Grundrechtekomitee, bezog sich auf die Behinderung und Einschränkung von Protesten. Dies umfasste unter anderem Demonstrationsverbote im Stadtgebiet, die Verhinderung von Camps trotz zeitweiliger gerichtlicher Erlaubnis, Schikanen bei der An- und Abreise der Protestierer sowie die gewaltsame Auflösung der linksradikalen »Welcome to Hell«-Demonstration am 6. Juli. Die Versammlung mit rund 12 000 Teilnehmern wurde trotz relativer Friedfertigkeit zerschlagen, die Polizei begründete den Einsatz hauptsächlich mit der teilweisen Vermummung der Demonstranten.

In der Kritik stand auch der Einsatz von Gummigeschossen durch Beamte eines sächsischen SEK gegen Protestierende. Aus Sicht des Anwaltlichen Notdienstes Hamburg ist dies auf Demonstrationen nicht zulässig, ein Polizeisprecher erklärte, die Entscheidung über den Waffengebrauch liege beim Einsatzleiter.

Akkreditierungsentzug

32 Journalisten, die bereits eine Akkreditierung für den G20-Gipfel besaßen, wurde diese aus »Sicherheitsgründen« während des Politikertreffens wieder entzogen. Namenslisten der Betroffenen kursierten dafür ungeschützt unter Dutzenden Bereitschaftspolizisten. Der Großteil der Journalisten, darunter auch zwei »nd«-Redakteure, hatte erst im Nachhinein davon erfahren. Durch hartnäckiges Nachfragen von Medien und Berufsverbänden stellte sich später heraus, dass die Datengrundlagen für den Entzug in mehreren Fällen falsch oder illegal waren. So entstammten viele polizeiliche Vorwürfe schlichten Verwechslungen oder resultierten aus Fällen, die bereits vor Jahren eingestellt waren oder in denen es nie eine Anzeige oder ein Verfahren gab.

Das BKA erklärte am 19. Oktober, dass es am 7. Juli eine Liste mit 82 Namen, darunter die der 32 Journalisten, an die Hamburger Polizei übermittelte. Bereits einige Stunden später hätte man aber laut »Tagesschau« erkannt, dass dies nicht rechtskonform sei und die Liste wieder zurückgezogen. Diese Information sei laut dem BKA jedoch aufgrund des Kommunikationschaos nicht bis zur ausführenden Polizei durchgedrungen.

Neun Journalisten klagten gegen den Akkreditierungsentzug. In zwei Fällen löschte das Berliner LKA die Daten der Kläger. Da die zwei Fotografen einer Löschung ausdrücklich widersprochen haben, ist diese Maßnahme nach Einschätzung von Datenschützern eindeutig illegal.

Der für zahlreiche G20-Recherchen verantwortliche ARD-Redakteur Arnd Henze erklärte am 17. Oktober auf Twitter, dass er vermutet, dass das LKA Berlin versuche, Kollegen gegen ihn zu »munitionieren«. Seine Reaktion: »Falls es stimmt: böses Foul!«

Gerichtsverhandlungen

Ende September saßen noch 23 von anfangs 51 Verdächtigen in Untersuchungshaft, viele davon Ausländer. Anwälte kritisieren, dass die U-Haft gezielt eingesetzt wird, um schnelle Geständnisse zu erhalten.

Zwei Verhandlungen stachen bisher heraus: Das Gericht verurteilte den 21-jährigen und nicht vorbestraften Niederländer Peike S. aufgrund von Flaschenwürfen zu zwei Jahren und sieben Monaten Haft ohne Bewährung. Eine »Embryonalstellung« während der Festnahme legte man ihm als Widerstandshandlung aus.

Der Prozess gegen den 18-jährigen Italiener Fabio V. wurde derweil aufgrund eines mittlerweile abgelehnten Befangenheitsantrages gegen die vorsitzende Richterin vertagt. Die Staatsanwaltschaft wirft V. schweren Landfriedensbruch und versuchte gefährliche Körperverletzung vor, weil er sich in besagter Gruppe von Demonstranten in Altona befand, aus der heraus es zu Gewalt gegen Polizisten gekommen sein soll. Obwohl V. selbst keine konkreten Taten vorzuwerfen waren, fiel der Richter Marc Tully mit markigen Worten auf: Der Verdächtige zeige »schädliche Neigungen« und »erhebliche Anlage- und Erziehungsmängel«. Die »zu erwartende Freiheitsstrafe« könne man »vermutlich« nicht zur Bewährung aussetzen. Kritiker vermuten eine politische Motivation hinter beiden Verhandlungen.

Politische Aufarbeitung

Zahlreiche Politiker von SPD bis AfD forderten im Nachgang des G20-Gipfels ein entschiedenes Vorgehen gegen »linke Gewalttäter«, wie auch gegen eine vermeintliche Infrastruktur von diesen. Die Vorschläge reichten von lebenslangem Demonstrationsverbot über Fußfesseln bis hin zur Schließung von linken Zentren. Das Innenministerium begründete das Verbot des linken Webportals »Linksunten Indymedia« Ende August ebenfalls mit den G20-Protesten.

Am 31. August nahm die Aufarbeitung konkrete Formen an. Es konstituierte sich ein Sonderausschuss mit 19 Mitgliedern aller Fraktionen der Hamburger Bürgerschaft. Christiane Schneider von der Hamburger LINKEN kritisierte Anfang Oktober jedoch die Polizei, die Aufarbeitung zu sabotieren. Viele Akten seien geschwärzt oder entfernt. Sie verwies als Beispiel auf zwei Ordner, in denen 73 von 88 beziehungsweise 60 von 87 Seiten nicht lesbar waren. Die Polizei wolle die Akten noch mal überprüfen, hieß es daraufhin. Die Behörde begründete die Schwärzungen mit Datenschutz und einer Gefährdung des Staatswohls. In der nächsten Sitzung am 9. November soll Hamburgs Oberbürgermeister Olaf Scholz aussagen.

Das Grundrechtekomitee und die LINKE ziehen eine verheerende Bilanz der bisherigen parlamentarischen Aufklärungsbemühungen: »Ich befürchte, dass der Sonderausschuss der Bürgerschaft die politische Aufarbeitung nicht leisten kann - schon allein, weil mit Ausnahme der LINKEN sämtliche Fraktionen einen ständigen Kotau vor der ›Leistung‹ der Polizei machen«, sagte Heiner Busch vom Grundrechtekomitee gegenüber »nd«.

Auch Cansu Özdemir, Fraktionsvorsitzende der Hamburger Linkspartei, äußerte gegenüber »nd« Skepsis bezüglich der offiziellen Ergebnissuche: »Wir haben während der Proteste die mangelnde Kooperationsbereitschaft bis hin zur eindeutigen Eskalation durch die Behörden kritisiert«, so die Politikerin. »Heute will der Senat eine echte Analyse und Aufarbeitung verhindern.« In den nächsten Wochen werde sich zeigen, ob Fraktionen von SPD und Grünen ihm folgen werden. »Die Fragen zu verschiedenen Polizeieinsätzen werden indes eher mehr als weniger.«

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