- Politik
- Aufarbeitung der G20-Protesttage
»Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen«
Der Sozialwissenschaftler Peter Ullrich im Interview über die schleppende Aufarbeitung der G20-Protesttage
Kann man schon sagen, wer den Kampf um die Deutungshoheit der G20-Proteste gewonnen hat?
Nein, dass kann man definitiv nicht sagen. G20 war ein interessantes Phänomen, da es schon während des Verlaufs Wellenbewegungen der Sympathie und Empörung gab. Schon frühzeitig zeigte sich angesichts der harten Polizeilinie eine ungewöhnlich polizeikritische Berichterstattung, die dann aber später bis hin zur Darstellung eines Bürgerkriegsszenarios umgeschwungen ist. Auch jetzt geht das noch weiter. Zum einen sorgen die Auseinandersetzungen im Sonderausschuss dafür, andererseits sind verschiedene Medien immer noch dabei, über neue Entwicklungen und Enthüllungen zu berichten. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.
Dr. Dr. Peter Ullrich ist Mitglied des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung (ipb). Das unabhängige Netzwerk ist eine Initiative von Sozialwissenschaftlern, die nach eigener Aussage zu einer »Politik von unten« forschen wollen. Jüngst hat das ipb in Kooperation mit weiteren Wissenschaftlern ein Projekt zur systematischen Auswertung der G20-Proteste begonnen. Mit dem Sozialforscher sprach Sebastian Bähr.
Sie haben das von Medien gezeichnete Szenario des Bürgerkriegs erwähnt. Wie besonders war die Gewalt der Demonstranten?
Wenn wir uns die deutsche Protestlandschaft der vergangenen Jahre anschauen, war das schon ein herausragendes Ereignis. Aber jetzt kommen viele Einschränkungen: Ich erinnere etwa an die Demonstrationen in den 1980er Jahren, wo größere Mengen von Protestierern komplett gepanzert mit Helmen und Schlagstöcken ausgerüstet waren. Das war eine ganz andere Qualität der Gewalt. Auch im europaweiten Vergleich war das kein besonders herausragendes Ereignis. In vielen Ländern gibt es häufigere und stärkere Konfrontationen. Drittens muss man die Gewalt in den Kontext der Protestwoche stellen. Dort hat sich eine Gewaltspirale ereignet, an der verschiedene Akteure mitgedreht haben. Gerade der Polizei muss man eine Teilverantwortung an dieser Zuspitzung geben.
Was meinen Sie mit verschiedenen Akteuren?
Die Ausschreitungen fanden im Kontext eines Ausnahmezustandes statt. Es gab viele dynamische Proteste und zahlreiche Leute haben sich mehr oder weniger spontan in dieses Geschehen reinziehen lassen. Die Straßenschlachten und Plünderungen sind nur zu einem gewissen Teil als geplante Aktionen von militanten Linken verstehbar.
Wie haben sich die Plünderer im Schanzenviertel zusammengesetzt?
Das ist schwer zu sagen, da wir diesbezüglich bisher keine Analysen haben. Es gibt natürlich Hinweise, dass militante Linke Aktionen gestartet haben. Bei den Verhafteten hatte sich andererseits herausgestellt, dass kaum jemand Bezüge zur linke Szene besaß. Man konnte sehen, dass es Menschen gab, die offensichtlich Glück dabei empfunden haben, sich Konsumgüter anzueignen. Das deutet daraufhin, dass es wahrscheinlich eine größere Beteiligung von prekären Gesellschaftsschichten gab, die dort eine Möglichkeit zur Teilhabe am Konsumversprechen der kapitalistischen Gesellschaft gesehen haben - ein implizit politisches Motiv. Bei anderen, die Konsumprodukte zerstörten, liegt ein explizit politischer Hintergrund näher. Man konnte ebenfalls beobachten, dass um die Ausschreitungen herum das normale Ausgehleben weiterging. Der Übergang war hier fließend. Die Bierflasche von der Kneipenbank wurde schnell zum Wurfgeschoss.
Warum hat sich die Polizei während der Randale aus dem Schanzenviertel zeitweise zurückgezogen?
Es ist anzunehmen, dass tatsächlich Inkompetenz und Unsicherheit geherrscht haben und Einheiten vor Ort nicht genau wussten, was dort passiert. Gleichzeitig hat der Hamburger Einsatzleiter Hartmut Dudde von vorn herein klar gemacht, dass er alles aufbietet, was technisch und taktisch möglich ist. Es ist nicht unplausibel anzunehmen, dass der Einsatz des SEK beispielsweise auch Teil dieser Machtdemonstration war. Dazu gehören aber auch die zahlreichen Wasserwerfer und der Panzer, der extra zuvor angeschafft worden war. Man kann den G20-Gipfel als eine Art Zurschaustellung von zu Technik geronnener männlicher, autoritärer Macht begreifen.
Kann die Aussage von Olaf Scholz, dass es keine Polizeigewalt gab, aufrechterhalten werden?
Nein, das ist absolut unhaltbar und eine völlig deplatzierte Äußerung. Zuerst aber: Faktisch gibt es immer Polizeigewalt, die Diskussion dreht sich hierbei um die illegale Polizeigewalt. Auch in diesem Fall sind jedoch viele Fälle von eindeutig unverhältnismäßigen Angriffen auf Demonstrierende, zufällige Menschenansammlungen und Journalisten dokumentiert - es ist eine unendlich lange Liste. Wir müssen jetzt schauen, was sich davon nachweisen und aufarbeiten lässt. Man kann diese Aussage von Scholz strategisch motiviert sehen. Sie soll kaschieren, dass das eigene Sicherheitskonzept auf ganzer Linie gescheitert ist.
In den vergangenen Wochen gab es immer wieder Korrekturen seitens der Polizei an früheren Aussagen, einige Vorwürfe konnten bis heute nicht belegt werden. Sind nur Fehler passiert oder wurde mit Absicht übertrieben?
Ich habe das Gefühl, dass da Unprofessionalität und eine extrem autoritäre Linie zusammenkamen. Wir konnten bisher nicht abschließend feststellen, ob schlicht vergessen wurde, Beweise zu sichern oder es diese niemals gegeben hat. Es ist sehr wahrscheinlich, dass an beiden Szenarien etwas dran ist. Man sollte dabei die Rahmenbedingungen beachten, die nun die Polizei in Erklärungsnot bringt. Bereits vor den Protesten hat sie diverse Horrorszenarien zirkulieren lassen, womit dann auch bei den Beamten ein starkes Freund-Feind-Schema aufgebaut wurde. Am Ende hat sich die Polizei selber mit in dieses Bürgerkriegsszenario rein katapultiert.
Wie würden Sie in diesem Zusammenhang die Öffentlichkeitsarbeit der Polizei bewerten?
Sie war ambivalent. Es gab Meldungen, die keiner realistischen Lageeinschätzung entsprachen, sondern zu diesem Katastrophenszenario beigetragen haben, das nun im Nachhinein teilweise revidiert werden muss. Die Polizei vertritt von sich ein Selbstbild als neutraler Akteur. Dabei ignoriert sie jedoch, dass sie bei einem Geschehen wie G20 selbst zur Konfliktpartei wird. Dort ist sie kein neutraler Richter, da sind Adrenalin, Feindbilder und eingespielte Konfliktkonstellationen im Spiel. Wenn dann im Handgemenge Tweets mit ungeklärtem Status veröffentlicht werden, ist das hochproblematisch. Es gab aber auch positive Beispiele, wo Falschinformationen richtig gestellt und Sachinformationen geliefert wurden.
Wie konnte die öffentliche Stimmung so schnell kippen von einer eher polizeikritischen Position bis hin zu einer Heroisierung der Beamten?
Gewalt ist einer der zentralen Nachrichtenfaktoren - sobald es dazu kommt, dominiert diese die Berichterstattung. Die Polizei genießt zudem traditionell einen sehr hohen Stellenwert in der Bevölkerung und auch in den Medien. In der Regel wird ihre Sicht der Dinge von Medien erst mal übernommen, wenn es nicht starke Hinweise darauf gibt, dass diese zu hinterfragen ist. Nicht zuletzt durch das Hinwegsetzen über die Gerichtsentscheidung bei den Camps hat die Polizei zu Beginn der Proteste ihre Missachtung des Rechts so sehr übertrieben, dass selbst in den konservativen Medien ein kritischer Blick fast nicht mehr zu vermeiden war. Die Gewalt hat dann jedoch alles überschattet und wurde von den meisten Medien recht schnell und homogenisierend den Protestierenden zugeschrieben. Gerade Boulevardmedien und konservative Medien haben da Stimmung gemacht, indem sie sämtliche Gewaltereignisse der politischen Linken im Ganzen zugeschrieben haben. An dieser Stelle haben sie sich überhaupt nicht mehr analytisch mit der komplexen Dynamik der Randale auseinandergesetzt.
Konnten die Demonstranten überhaupt mit ihren Inhalten abseits der Randale durchdringen?
Ich habe das Gefühl, dass die Inhalte des Gipfels - und damit auch die Inhalte derjenigen, die den Gipfel kritisierten - völlig in den Hintergrund getreten sind. Das liegt vermutlich auch daran, dass der Gipfel außerhalb der politischen Klasse ohnehin nur geringe Legitimität besaß. Entsprechend ist für inhaltliche Themen nur wenig Aufmerksamkeit generiert wurden. Die Polizei hat in Komplizenschaft mit dem Hamburger Innensenat und der Bundespolitik dann diese Lücke durch ein autoritäres Unterbinden jedweden Protestes gefüllt.
Wie stark war der Eingriff in die Grundrechte?
Was wir in Hamburg gesehen haben, waren völlig entgrenzte Sicherheitsorgane. Sie setzten bereits zu Beginn versammlungsfeindliche Rahmenbedingungen und damit Voraussetzungen für Übergriffe auf individueller und Einheitsebene. Grundrechte der Versammlungsfreiheit, wie auch der Schutz von Journalisten, wurden in der Folge nicht gewürdigt. Was wir erlebt haben, war ein Zustand, in dem die Rechtsbindung der Behörden, wenn nicht suspendiert, dann doch zumindest stark herabgesetzt war. Das stimmt mich für die Zukunft der Versammlungsfreiheit hochgradig pessimistisch.
Welche Rolle spielte der Austragungsort Hamburg?
Das harte polizeiliche Vorgehen der sogenannten Hamburger Linie ist bereits lange etabliert und zeigte sich auch während des G20-Gipfels. Das antiliberale Bild vom Vorgehen gegen die Proteste ist ganz klar mit der Person Hartmut Dudde verbunden. Beispielsweise in Berlin oder in Niedersachsen wäre man sicher anders mit dieser Art von Protesten umgegangen, so dass sich die Situation nicht dermaßen zugespitzt hätte. Die Hamburger Polizeiführung bekam ihre Absicherung jedoch auch vom Innensenat und der Bundesebene. Die Polizeieinheiten aus manchen anderen Bundesländern mussten sich dieser Linie unterordnen. Und manche von denen waren ebenfalls nicht ohne. Sachsen hat die Protesttage genutzt, um Gummigeschosse auszuprobieren. Es gab also auf allen Ebenen ziemliche Probleme.
Erwarten Sie, dass ein Politiker oder Einsatzführer Verantwortung für den Gipfel übernimmt?
Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz hatte den Stadtbewohnern versprochen, dass sie den Gipfel gar nicht bemerken würden, offensichtlich ist das genaue Gegenteil passiert. Nachdem der Umgang mit den Protesten bereits einen absoluten Skandal darstellte, ist das völlige Abstreiten von Verantwortung nun der nächste. Ich fürchte, dass auch der Sonderausschuss nicht sehr viel zur Aufklärung beitragen kann.
Warum kann der Sonderausschuss das nicht bieten?
Das Hauptproblem ist, dass die Oppositionsparteien sehr unterschiedliche Interessen haben. Die LINKE fordert eher die Aufklärung der staatlichen Rechtsverletzungen, die CDU eher die, der linken Militanten. Die Regierungsparteien wiederum wollen ihre eigene Verantwortung möglichst kleinreden. Letztlich ist es das typische Problem von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen, dass parteipolitische Partikularinteressen verhindern, dass es ernsthafte Aufarbeitung gibt. Im Moment haben wir aber ja auch nur einen Sonderausschuss, wo Zeugen nicht mal vereidigt werden können und es auch wenig Einsichtsrechte für Parlamentarier gibt. Da der Ausschuss so am Ende womöglich ein zahnloser Tiger bleiben wird, braucht es dringend unabhängige Aufarbeitung.
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