Obdachlose sind sichtbarer als früher

Am 1. November leitet die Kältehilfe die Wintersaison ein - vermutlich reichen die 1000 Plätze nicht aus

  • Ulrike von Leszczynski
  • Lesedauer: 3 Min.

Am 1. November startet die Kältehilfesaison. 1000 Schlafplätze für Obdachlose will die Senatsverwaltung für Soziales pro Nacht finanzieren, 80 mehr als im vergangenen Jahr. Fünf Millionen Euro mehr sind im neuen Doppelhaushalt für 2018 und 2019 beispielsweise für Suppenküchen oder Notübernachtungen eingeplant - zusätzlich zu den bisher 4,1 Millionen Euro pro Jahr.

Ausreichen wird das aber wahrscheinlich nicht. »Niemand hat eine Lösung, das ist ein vielschichtiges Problem«, sagt Karin Rietz, Sprecherin von Sozialsenatorin Elke Breitenbach (LINKE). Es fängt damit an, dass es keine Zahlen über Obdachlosigkeit in der Hauptstadt gibt. Schätzungen schwanken zwischen 4000 und mehr als 10 000 Menschen. 2018 soll die Datenlage verbessert werden, um den Bedarf genauer zu planen. Doch wie lassen sich Menschen zählen, die nirgendwo gemeldet sind und Behörden aus dem Weg gehen? Eine klare Antwort darauf hat der Sozialsenat noch nicht. Dazu kommt, dass die Koordination der Nothilfe Sache der Bezirke ist und bleiben soll. Ein »gesamtstädtisches Konzept« sei dennoch in Arbeit.

Allein in der Bahnhofsmission am Zoo ist Ortrud Wohlwend zufolge die Zahl der Bedürftigen in den vergangenen Jahren von 400 bis 500 auf 600 bis 700 gestiegen - pro Tag und das ganze Jahr über. Das System funktioniere nur noch, weil ehrenamtliche Helfer einsprängen und viele Spenden flössen, bilanziert die Sprecherin der Stadtmission.

Wohlwend klingt fast erleichtert, dass Mittes Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel (Grüne) mit Blick auf campende Obdachlose aus Osteuropa im Tiergarten jüngst das Wort Abschiebung in den Mund nahm. Nicht weil die Stadtmission, Teil der Evangelischen Kirche, Abschiebungen gutheißen würde - im Gegenteil. Aber das drastische Wort führte dazu, was von Dassel bereits bei seinem Ruf nach Sperrbezirken für Straßenprostitution im Sommer wohlkalkuliert erreichen wollte: dass es endlich einmal eine Debatte darüber gibt. Als die Berliner Kältehilfe 1989 startete und zum Vorbild für andere Großstädte wurde, war die Gruppe der Obdachlosen fast homogen. Der harte Kern bestand aus Männern aus Deutschland zwischen 35 und 55, die in ihrem Leben etwas aus der Bahn geworfen hatte, oft Trennungen und Arbeitslosigkeit. Manchmal zeigten sich bereits psychische Probleme oder eine Drogenkarriere - manchmal begann das erst auf »Platte«. Ein Jahr auf der Straße, und ein Mensch kommt da nur schwer wieder weg - so lautet eine Faustformel von Sozialarbeitern.

Heute kommen viele Menschen ohne Bleibe aus der EU, meist aus Osteuropa. Manche sind sehr jung, andere sehr alt. Einige haben hier Arbeit gesucht und sind gescheitert. Andere arbeiten und leben trotzdem auf der Straße. Insgesamt gibt es nach den Beobachtungen des Sozialsenats mehr Frauen auf der Straße als früher, mehr chronisch Kranke und Behinderte - und als Ausnahme inzwischen sogar Familien. Und Obdachlose sind in der Stadt generell sichtbarer als früher. Unter ihnen gibt es Zusammenhalt, aber auch Missgunst und Gewalt. Die Claims sind abgesteckt. Werden Quartiere geräumt, entstehen anderswo neue.

»Obdachlose sind Menschen mit Rechten«, sagt Rietz. Freizügigkeit in EU-Staaten sei eines davon. Hinzu kommt der Anstieg der Mieten im Zentrum der Hauptstadt. Es ist kaum noch möglich, neue Räume für die Ärmsten zu finden.

Wohlwend schlägt ein Abkommen zwischen Deutschland und Polen auf gegenseitige Hilfe vor. »Ein EU-Land kann doch seine Staatsbürger nicht einfach aufgeben.« Sie hätte auch nichts gegen die Erfassung von Personalien, wenn ein Obdachloser Hilfe ablehne. Einige Menschen liefen vor Haftstrafen in ihrer Heimat davon. Gleichzeitig wünscht sich Wohlwend mehr Streetworker und Dolmetscher, die Menschen auf der Straße ganz nah sind. »So haben wir die Familie eines Obdachlosen in Polen gefunden. Sie hat ihn bei uns abgeholt und aufgenommen. Sie dachten, er wäre tot.« Solche Lösungen aber seien noch die große Ausnahme. dpa

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