Blick in die abgründige Provinz

»Das Verschwinden« von Hans-Christian Schmid in der ARD

  • Katharina Dockhorn
  • Lesedauer: 3 Min.

Krankenpflegerin Michelle Grabowski (Julia Jentsch) ist verzweifelt. Ihre ältere Tochter, die 20-jährige Janine (Elisa Schlott), ist spurlos verschwunden. Die Polizei einer Kleinstadt nahe der bayerisch-tschechischen Grenze wiegelt ihre Ängste ab. Daher macht sich Michelle selbst auf die Suche. Die erste Spur führt zu Janines Freundinnen Manu (Johanna Ingelfinger) und Laura (Saskia Rosendahl) und ins Drogenmilieu der Region, über die Deutschland mit billigen synthetischen Aufputschmitteln aus illegalen Küchen in Tschechien versorgt wird. Die drei wollten selbst in den Schmuggel mit Crystal Meth einsteigen.

So begann am vergangenen Sonntag die achtteilige Serie »Das Verschwinden«, die der aus Altötting stammende Regisseur Hans-Christian Schmid (»23«, »Was bleibt«) gemeinsam mit Autor Bernd Lange entwickelt hat. Beide standen bereits hinter den Kinofilmen »Requiem« und »Sturm«, für beide ist es die erste Fernsehserie.

Sie streifen die Ermittlungen der Polizei, das Leben der Kommissare oder die Korruption in deren Reihen. Die Handlung treiben Michelles Nachforschungen voran. Sie spülen die kleinen und großen Lebenslügen und Heimlichkeiten des Freundes- und Bekanntenkreises der Familie langsam ans Licht. Und auch für Michelle werden sie zu einer Konfrontation mit dem eigenen Lebensentwurf. Sie wollte ihren Traum von der Freiheit als alleinerziehende Mutter leben und hat ihrer Tochter nie gebeichtet, wer ihr Vater ist. Und auch der hat geglaubt, dass seine Frau die diskreten Abbuchungen für den Unterhalt der Tochter nicht bemerkte.

Schmid macht die Risse hinter den bürgerlichen Fassaden moderner Familien sichtbar; hinter den Mauern schicker Häuser verbergen sich unübersehbare Zeichen sozialer Verwahrlosung. Die Erwachsenen vertuschen die eigenen Fehler, sie handeln stets in dem Glauben, Partner und Kinder zu schützen. Sie wollen ihren Kindern eher Freund statt Erzieher sein, können sie nicht in die Unabhängigkeit entlassen, finden kein angemessenes Maß zwischen Verstehen, Kumpelei und Strafe. Es fällt ihnen vor allem selbst schwer, die Werte zu leben, die sie predigen. In dieser Atmosphäre lassen sich Generationskonflikte kaum austragen, Rebellion und die Suche nach alternativen Lebensentwürfen unterbleiben.

Schmid blickt seinen Figuren tief in die Seele. Ihre Angst, das Leben, in dem sie sich eingerichtet haben, infrage zu stellen und aufzugeben, wird jederzeit spürbar. Penibel zeichnet er die sozialen Milieus und die Abhängigkeiten in einer Kleinstadt nach, in der jeder jeden kennt, und macht sie ebenfalls zu Triebfedern der Handlung. Er zeigt einen überforderten Polizeiapparat aus der Provinz, der mit einem lukrativen, europaweiten Schmuggelgeschäft konfrontiert wird.

Langsam zieht Schmid die Zuschauer in den Bann des dramaturgisch bis aufs i-Tüpfelchen grandios durchkomponierten Mehrteilers. Die breit angelegte Geschichte eines Kleinstadtdramas entwickelt ungeheuren Sog und eine Spannung, die unter die Haut geht.

Die ersten beiden Teile sind noch in der Mediathek der ARD zu sehen, die weiteren Folgen strahlt das Erste am 29., 30. und 31. Oktober aus.

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