Wildern in der großen Stadt
Wildschweine und Elche entdecken urbanes Gelände - Problem oder Bereicherung?
Sie verbreiteten Angst und Schrecken, hinterließen einen Haufen Glasscherben, einige Blessuren und sogar eine abgebissene Fingerkuppe. Die Rede ist von zwei ausgewachsenen Keilern, die unlängst das verschlafene Örtchen Heide in Schleswig-Holstein aufmischten. Einer der beiden Keiler drang sogar in die örtliche Sparkasse ein, scheuchte die Angestellten auf und ramponierte das Interieur. Mindestens vier Menschen wurden bei dem Überfall der Wildtiere am helllichten Tag verletzt.
Vor dem Gebäude biss ein Tier einem Mann die Fingerkuppe ab. Zuvor war der Keiler durch eine Automatik-Glastür in ein Optikergeschäft am Markt eingedrungen. Das Wildschwein verletzte dort eine ältere Frau und richtete im Geschäft erheblichen Schaden an. Eine Videoaufnahme zeigt, wie sich Menschen in dem Laden vor dem Tier in Sicherheit bringen. Im Anschluss lief der etwa zwei Jahre alte Keiler den Angaben der Polizei zufolge zur Sparkasse und griff dabei eine Passantin an. Die dramatischen Szenen endeten damit, dass eines der Wildschweine erschossen wurde, erklärte die Polizei. »Der erste Schuss hat gesessen«, sagte Bürgermeister Ulf Stecher (CDU). Der zweite Keiler floh daraufhin in das angrenzende Waldgebiet.
Saugefährliche Keilerei
Stecher war als Augenzeuge dabei, als ein alarmierter Jäger das Tier tötete. Der 70 Kilo schwere Keiler war wohl bei der Maisernte aus einem Feld aufgescheucht worden. »Das war eine ganz außergewöhnliche Situation«, so der Bürgermeister. Die Gegend sei nicht gerade dafür bekannt, dass dort Schwarzwild sein Unwesen treibt. »Ich hätte niemals gedacht, dass wir einmal eine solche Gefahrenlage haben würden«, so Stecher.
Immer wieder verirren sich Wildtiere aus angrenzendem Unterholz in urbanes Gelände. Moritz Klose, Wildtierexperte bei der Umweltschutzorganisation WWF, sieht mehrere Gründe für diese Entwicklung. Weil gerade bei Wildschweinen die Bestände stark gestiegen seien, suchten die Tiere nach neuen Lebensräumen - und gelangten dabei auch in die Städte. »Auch hier finden sie genug zu fressen«, sagt Klose. Hinzu komme, dass die Tiere auf städtischem Gebiet weniger Angst vor Jägern haben müssen. Allerdings gehe von Wildschweinen nur selten Gefahren aus. »Wildschweine sind im Grunde friedliche Tiere«, sagt Andreas Kinser von der Deutschen Wildtier Stiftung. »Nur in Extremfällen kann die Begegnung mit einem Wildschwein gefährlich sein.« Das sei zum Beispiel der Fall, wenn ein Keiler verletzt oder aufgescheucht wird. Dann verhalte er sich sehr aggressiv, sagt der Biologe. »Das sind einzelne, verletzte Tiere, und die greifen immer wieder an.«
Elche auf Wanderschaft
Neben den Schweinen treibt es jedoch auch andere Tiere immer wieder in die Städte. Für Schlagzeilen sorgte vor einigen Jahren ein Elch in Sachsen. Der Jungbulle war zunächst im August 2014 aus Polen »eingewandert«, an Autobahnen und einer Siedlung bei Radebeul gesichtet worden. Anschließend hatte er die Elbe durchschwommen und landete schließlich im Foyer eines verglasten Bürogebäudes in Dresden. Eingeklemmt zwischen Wand und Scheibe musste der Vierbeiner notgedrungen verharren, bis ihn nach fünf Stunden Spezialisten betäuben und abtransportieren konnten.
Elche sind in Sachsen keine Seltenheit. Trotzdem mahnen ExpertInnen, den Tieren mit Respekt zu begegnen. Wer einem Elch begegnet, solle nicht zu nah herangehen und das Tier nicht in die Enge treiben. Jungtiere aus Tschechien oder Polen begeben sich zweimal im Jahr auf Wanderschaft, heißt es von der Gesellschaft für Naturschutz und landschaftsökologische Forschung. Dabei würden sie oft hunderte Kilometer zurücklegen und so auch nach Sachsen kommen. Elchpopulationen, die im Freistaat beheimatet sind, gebe es aber bisher nicht.
Ortswechsel: Sachsen-Anhalts Hauptstadt Magdeburg. Die Wiese im Stadtpark Rotehorn sieht an mehreren Stellen aus wie ein Acker. Grasbrocken liegen kreuz und quer verteilt, auf ganzen Flächen ist nur noch braune Erde zu sehen. Jan Driesnack deutet auf eine frische Spur im Dreck. »Das war ein Überläufer«, sagt der 40-Jährige, der bei der Stadt die Projektgruppe Wildtiere leitet. Überläufer, das sind etwa ein Jahr alte Wildschweine. Mit ihrer Schnauze durchpflügen sie die Wiese auf der Suche nach Futter - Würmer, Käfer oder Schnecken. »Wenn die es drauf anlegen, machen sie in einer Nacht die ganze Wiese schwarz«, sagt Driesnack.
Anders als im schleswig-holsteinischen Heide, waren die Wildschweine hier auf Nahrungssuche. Neben Wildschweinen fühlen sich auch Rehe, Füchse, Marder oder Waschbären in unmittelbarer Nähe des Menschen mittlerweile wohl. »Es sind eindeutig mehr geworden in den letzten Jahren«, sagt Driesnack. In Magdeburg lebten inzwischen rund 200 Rehe und mehrere größere Wildschweingruppen. Berlin gilt mit mehreren Tausend Tieren als »Schweinehauptstadt«. Aber auch in anderen Großstädten wie München oder Köln seien die Tiere heimisch, berichtet Torsten Reinwald vom Deutschen Jagdverband.
In Magdeburg gibt es seit dreieinhalb Jahren die Projektgruppe Wildtiere um Jan Driesnack. Sieben erfahrene Jäger und Wildtierexperten kümmern sich um die Konflikte, die die Tiere in der Stadt mit sich bringen. »Betroffene Anwohner melden sich praktisch jeden Tag bei uns«, sagt Driesnack. Denn nicht immer bleiben die Wildschweine im Stadtpark, manchmal statten sie auch Gartenanlagen einen Besuch ab. Häufig gerufen werden Driesnack und seine Mitstreiter aber auch wegen Mardern oder Waschbären.
Häufig lasse sich das Problem durch bessere Zäune oder dem Verschließen von Öffnungen am Haus in den Griff bekommen, sagt Driesnack. Zudem wichtig laut WWF-Experte Klose: Mülltonnen sicher verschließen, kein Katzen- oder Hundefutter draußen stehen lassen - und auf gar keinen Fall die Wildtiere durch Füttern noch zusätzlich anlocken. Hilft das alles nichts, werde den Tieren auch mit Fallen nachgestellt, sagt Driesnack.
In den Magdeburger Parks wird zudem regelmäßig Jagd auf Wildschweine gemacht - im Herbst meist einmal im Monat. Ziel sei es, den Bestand in einem vertretbaren Rahmen zu halten. »Ganz aus der Stadt bekommen werden wir die Tiere aber nicht«, sagt Driesnack.
Lebensraum für seltene Tierarten
Allerdings dürfe man nicht nur über die Tiere reden, die Probleme machen, sagt der Magdeburger Wildtierexperte. Auch eine ganze Reihe seltener Tierarten habe sich inzwischen auf städtischem Gebiet angesiedelt - an der Elbe fänden sich etwa Biber und Eisvögel. »Das ist gut für den Artenschutz.« Ähnlich sieht das WWF-Experte Klose. »Es ist toll, dass die Tiere zurückkommen, weil sie hier einen passablen Lebensraum finden.« Uhus, Mäusebussarde oder die Feldlerche seien weitere Beispiele. »Das ist eine tolle Möglichkeit, um in der Stadt Natur hautnah zu erleben.« Agenturen/fbr
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