- Politik
- Migration
Verzweiflung auf der Balkanroute
Nach wie vor stecken viele Flüchtlinge auf dem Weg gen West- und Nordeuropa fest
Entschlossen blickt der auf seinem Stockbett sitzende Saud Khan auf die weiße Wand. Das Ziel seiner 19-monatigen Odyssee scheint unerreichbar fern, aber dennoch hält der Afghane eisern daran fest. »Ich will in mein Land zurück – nach England«, wiederholt der 25-Jährige im Auffanglager im serbischen Obrenovac gebetsmühlenartig.
Als die Taliban 2009 seinen Vater getötet hätten, sei er aus seinem nordafghanischen Heimatort Baghan geflohen, berichtet der Mann niedergeschlagen. Ein Jahr habe er damals benötigt, um nach Großbritannien zu gelangen. Fünf Jahre lang habe er in Gloucestershire gewohnt, bevor er nach Ablehnung seines Asylgesuchs abgeschoben worden sei. Doch in seinem Dorf hätten ihm die immer wieder aufflackernden Gefechte und erneute Todesdrohungen der Taliban keine Ruhe gelassen: »Ich fühlte mich nie sicher.«
Ein Onkel gab ihm das Geld, um 2016 die erneute Flucht zu wagen. Mit gequältem Gesichtsausdruck berichtet Saud über raffgierige Schlepper, Todesängste bei sturmumtosten Schiffspassagen, Schläge von Grenzern, Abschiebungen und Angstträume. Sprunghaft und fahrig lässt er sein Leben als Flüchtling Revue passieren. Er sei durcheinander, sein Gedächtnis funktioniere nicht mehr richtig: »Ich träume oft, dass sie mich verfolgen.« Sein Leben sei »ruiniert«, seufzt Saud. »Wer würde in einer solchen Lage nicht verrückt werden?«
Bis zu 14 000 Menschen pro Tag zogen auf dem Höhepunkt der sogenannten »Flüchtlingskrise« auf der Balkanroute im Herbst 2015 auf einem von der griechischen Ägäis bis Österreich geschaffenen Korridor in Richtung Westen. Dessen offizielle Schließung im März 2016 und verstärkte Grenzbarrieren haben deren Zahl zwar merklich reduziert, den stark abgebremsten Flüchtlingsdrang in den Westen aber nicht ganz versiegen lassen.
Flüchtlinge würden noch immer kommen und gehen, »allerdings in viel kleinerer Zahl«, berichtet in Belgrad Rados Djurovic, der Direktor des »Zentrum zum Schutz für Asylsuchende« (CZA). Auf »mindestens 20 Menschen« pro Tag beziffert er die Zahl der Flüchtlinge, die meist von Bulgarien, aber auch von Mazedonien nach Serbien gelangten.
Zwar gebe es noch immer Menschen, die dank ihrer Mittel »relativ schnell« durchs Land ziehen würden: »Doch vor allem Minderjährige und Familien ohne Geld hängen immer länger fest. Sie sind orientierungslos, wissen nicht mehr, was sie tun sollen und wie ihre Zukunft aussehen könnte. Und ihr psychischer Zustand ist meist sehr schlecht.«
Die Zahl der Flüchtlinge an der Balkanroute ist insgesamt geschwunden, einheitlich ist das Bild aber keineswegs. So wird auf den griechischen Ägäisinseln wieder ein verstärkter Andrang registriert: Anderthalb Jahre nach Schließung des Korridors bei Idomeni hat sich die Zahl der in Griechenland gestrandeten Flüchtlinge mit 60 000 kaum vermindert. Stark gesunkene Flüchtlingszahlen werden hingegen in Bulgarien vermeldet. Es würden sich nur noch 2200 Flüchtlinge auf bulgarischem Territorium befinden, berichtet die Nachrichtenagentur Novinite: »Die Migranten haben Bulgarien fast verlassen.« Während die Zahlen in Rumänien leicht steigen, sind sie in Serbien mit 4000 Flüchtlingen in offiziellen Lagern und knapp tausend Menschen, die unter freiem Himmel oder Ruinen biwakieren, etwas geschrumpft.
Obwohl die Mehrheit der Flüchtlinge in Serbien zumindest mit Unterkunft und Nahrung versorgt werde, gebe es kaum Anstrengungen, die immer länger im Land verweilenden Grenzgänger dauerhaft zu integrieren, so Djurovic vom CZA. In diesem Jahr seien erst zwei Asylanträge positiv beschieden worden: »5000 Leute sind eigentlich nicht viel. Deren schlechte Integration hat nicht nur mit dem Mangel an Mitteln, sondern auch mit dem Mangel an politischem Willen zu tun.«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.