»Sorgerecht« für Erdogan
Opposition in Bosnien spricht von unzulässiger türkischer Einmischung
Was sich kürzlich beim Besuch des türkischen Präsidenten in Serbien abspielte, hat Seltenheitswert. Die überwiegend muslimische Bevölkerung im südserbischen Sancak, darunter auch eine kleine türkische Minderheit, empfing Aleksandar Vučić, den eigenen Staatschef, mit Buhrufen. Amtskollege Recep Tayyip Erdoğan dagegen kassierte stürmischen Applaus. der sich zum Orkan steigerte, als der Türke die Region zu seiner »Heimat« erklärte, die er künftig großzügig fördern wolle.
Auch die türkischen Minderheiten in Mazedonien und in Kosovo verehren ihn. Ankara finanziert ihre Kulturvereine und die türkischen Schulen, die bis zum türkischen Abitur führen. Sie stehen Kindern aller Ethnien offen und sollen fit machen für ein Studium an türkischen Hochschulen. Die Absolventen sind Erdoğans »Fünfte Kolonne« auf dem Balkan.
Bei slawischen Muslimen in Kosovo wie den Goranen und sogar bei den orthodoxen Serben hat die Türkei schon seit der UN-Friedensmission nach dem Krieg 1999 einen ganz dicken Stein im Brett. Türkische Blauhelme, sagt Bejtullah Nuhi aus Gornja Rapca, seien »harte Hunde« gewesen und hätten weder Albaner- noch Serbenmilizen Gewalt gegen die Zivilbevölkerung durchgehen lassen. Die Deutschen dagegen, die zuvor in dem Goranen-Dorf stationiert waren, seien »Weicheier« und bei Übergriffen der Albaner »häufig blind auf beiden Augen« gewesen.
Und glaubt man Bakir Izetbegović, der die muslimische Bevölkerungsmehrheit im dreiköpfigen Staatspräsidium - dem kollektiven Führungsorgan von Bosnien-Herzegowina - vertritt, ist das Land schon seit 2003 eine Art türkisches Protektorat. Zwar vermittelte die internationale Gemeinschaft das Abkommen von Dayton, das den Bosnienkrieg beendete, und überwacht die Umsetzung bis heute. Doch Alija Izetbegović, Bosniens damaliger Präsident, der den Vertrag 1995 zusammen mit den Amtskollegen in Kroatien und Serbien unterzeichnete, soll Erdoğan 2003 in einem der letzten Telefonate vor seinem Tode das »Sorgerecht« für seinen Beritt übertragen haben. So jedenfalls erzählte es Sohn Bakir bei seinem jüngsten Türkei-Besuch: Sein Vater habe in Erdoğan den »künftigen starken Führer« erkannt.
Der widersprach nicht und wohnte anschließend zusammen mit seinem Gast der Premiere eines Spielfilms über das Leben von Alija Izetbegović bei. Erdoğan soll das mehrteilige Machwerk zum Großteil aus seiner Privatschatulle finanziert haben. Das Drehbuch legt den Darstellern - handelnde Personen sind mehrere noch lebende bosnische Politiker - Aussagen in den Mund, die nicht belegt sind. Die Opposition in Sarajevo ist empört und spricht von unzulässiger ausländischer Einmischung in den Wahlkampf. 2018 werden in Bosnien das Parlament und das kollektive Staatspräsidium neu gewählt. Erdoğans AKP und die Hausmacht von Bakir Izetbegović, die regierende Partei der Demokratischen Aktion (SDA), seien natürliche Verbündete, so Politologen. Beide gehören dem gleichen religiös-konservativem politischen Spektrum an; auch die Familien der Parteichefs sind seit Jahren eng befreundet. Ein Kolumnist sprach von »verbundene Gefäßen, in denen der Wasserstand immer gleich hoch ist«.
Das Bild stimmt nicht ganz: Bisher war vor allem Izetbegovic jr. Wasserträger. Bosnien unterstützte Erdoğans Umbau der Türkei zu einer Autokratie, schloss als erster die Schulen der Gülen-Bewegung und beging den ersten Jahrestag des missglückten Putsches in der Türkei im Juli 2016 mit olympischer Dimension. Jetzt muss Erdoğan liefern, und das bringt die Zentrifugalkräfte erneut auf Trab. Denn die Parteien der bosnischen Serben und Kroaten sind mit denen ihrer Mutterländer ähnlich eng liiert wie SDA und AKP und vertreten eher die Interessen ihrer jeweiligen Schutzmacht als die von Bosnien-Herzegowina.
Zwar sind die Beziehungen zwischen Belgrad und Zagreb zurzeit so schlecht wie selten seit Ende der jugoslawischen Teilungskriege. Ihre Satrapen in Sarajevo lassen sie dennoch gewähren. Deren Allianz, glauben Kenner der Materie, sei der Anfang vom Ende eines bosnischen Gesamtstaates und der erste Schritt zu Großserbien und Großkroatien. Staaten, die sich wie zu Zeiten der Türkenkriege im Mittelalter erneut als Bollwerk des Abendlandes gegen den Islam inszenieren würden. Brüssel werde die Projekte daher durchgehen lassen. Durch den Rechtsruck in Europa würden künftig auch dort jene den außenpolitischen Kammerton vorgeben, die die EU als Wertegemeinschaft des christlichen Abendlandes sehen.
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