Noch ein Versuch auf links
Fußball-Bundestrainer Joachim Löw sucht Außenverteidiger. Ein Leipziger erhält eine Chance
Vermutlich befinden sich auch in der Kontaktliste von Marcel Halstenberg zahlreiche Telefonnummern. Bis zum vergangenen Wochenende fehlte darin jene von Joachim Löw. Weswegen der Linksverteidiger von RB Leipzig völlig perplex war, wer ihn da am vergangenen Freitag anrief: »Es war eine unbekannte Nummer, und er hat sich mit Jogi Löw vorgestellt. Er hat viel geredet, und ich habe einfach nur zugehört. Im ersten Moment war ich sprachlos.« Klang wie die rührige Geschichte von früher: Fußballprofi sitzt auf dem Sofa - und plötzlich meldet sich der Bundestrainer. Wer dachte, solche Botschaften würden heute unpersönlich per Mail oder den Berater übermittelt, der irrt. In dieser Hinsicht ist der oberste Fußballlehrer des Landes konservativ geblieben.
Halstenberg hatte im - für den sonstigen Kader seines Arbeitgebers RB Leipzig - recht reifen Alter von 26 Jahren nicht zwingend damit gerechnet, sich in den Länderspielklassikern gegen England am Freitag in London oder gegen Frankreich am Dienstag in Köln vorstellen zu dürfen. Der aus Laatzen bei Hannover stammende Spätentwickler freut sich umso mehr. »Für mich geht ein großer Kindheitstraum in Erfüllung, man ackert sein Leben lang dafür. Ich werde alles aufsaugen und alles mitnehmen.« Erst mal werden das aber keine Erlebnisse auf dem Platz sein. Wenn sich der Kader am Dienstag in Berlin trifft, stehen zunächst Marketingaktivitäten an. Am Abend wird dann das neue Trikot für die WM 2018 präsentiert.
Ob Halstenberg wirklich eins beim Turnier in Russland tragen darf, steht zwar in den Sternen, aber er gibt ein gutes Beispiel dafür ab, wie eine Karriere noch Fahrt aufnehmen kann, die nicht gleich in der Bundesliga ihren Anfang nahm. Bei Hannover 96 begann er mit 18 Jahren zunächst in der zweiten Mannschaft. 2011 wechselte er ablösefrei zu Borussia Dortmund, spielte wieder zweite Mannschaft, dritte Liga. 2013 kam er dann mit dem Transfer zum FC St. Pauli immerhin in der zweiten Liga an, ehe der aufstrebende Brauseklub aus Leipzig zuschnappte. Galt die Ablöse von 3,5 Millionen Euro im Sommer 2015 fast als überhöht, hat sich Halstenbergs Marktwert bis heute fast verdoppelt.
Mit seiner Dynamik und seiner Wucht auf der linken Flanke stieg er bei den Sachsen zum unumstrittenen Stammspieler auf, machte 30 Spiele im ersten Bundesligajahr, 15 Pflichtspieleinsätze sind in der laufenden Saison schon notiert. Als Bestätigung »für seine konstanten Leistungen, seine Zielstrebigkeit und seinen Ehrgeiz« sieht Leipzigs Sportdirektor Ralf Rangnick die Berufung. Nach Timo Werner und Diego Demme wäre er der dritte deutsche Nationalspieler des Klubs.
Dabei wirkte der kernige Dauerbrenner speziell in der Champions League nicht immer auf der Höhe, zeigte plötzlich Defizite im Stellungsspiel und Zweikampfverhalten. Und inwieweit trotz unbestrittener Fortschritte sein technisches Repertoire und taktisches Verständnis für die Nationalmannschaft ausreicht, die wechselweise mit Dreier- oder Viererkette verteidigt, ist eine spannende Frage. Löw teilte bei der Nominierung mit, sein Überraschungsgast habe in der Königsklasse unter Beweis gestellt, auf internationalem Niveau mithalten zu können. »Wir haben nun die Gelegenheit, ihn gegen starke Gegner zu testen.« Als zweiten Ersatz für den Langzeitverletzen Kölner Jonas Hector.
Als erster Vertreter hat der Marvin Plattenhardt von Hertha BSC mittlerweile vier Länderspiele gemacht, aber uneingeschränkt überzeugt vom Berliner scheint der Bundestrainer nicht zu sein. Nach dem WM-Qualifikationsspiel in Nordirland bekannte Löw, dass die Probleme auf den Außenverteidigerpositionen aus seiner Sicht weiterhin bestehen; dann nämlich, wenn Joshua Kimmich oder eben Hector für die WM ausfielen. Deshalb erschien bei Marcel Halstenberg am Freitag auf dem Display plötzlich eine Nummer, die er gar nicht kannte.
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