An die Nachgeborenen

DIE DDR DES WOLFGANG LEONHARD

  • Lothar Bisky
  • Lesedauer: 3 Min.
Ein halbes Jahrhundert nach dem Erscheinen des Buches »Die Revolution entlässt ihre Kinder« erzählt Wolfgang Leonhard »seine« Geschichte der DDR, die »immer eine sehr persönliche geblieben« ist. Die Zeit an der Liebknecht-Schule in Moskau, die Schule der Komintern in Ufa, die Jahre vor Beginn der DDR - was gibt es da Neues für die Leser?
Zunächst agiert der begnadete Erzähler nunmehr in einem wesentlich erweiterten Zusammenhang: persönlich nach dazwischen liegenden Jahrzehnten des Suchens, Forschens, Publizierens und Lehrens, historisch nach der Epochenwende. Um es vorwegzunehmen: Die triumphale Geste des Rechthabens im Kampf gegen den Stalinismus unterbleibt. Inzwischen ist Wolfgang Leonhard der letzte Überlebende aus der »Gruppe Ulbricht«, die noch vor dem 8. Mai 1945 im Osten nach dem Willen Stalins abgesetzt wurde, um die Antifaschisten für den Wiederaufbau staatlicher Strukturen über den Kreis der wenigen Kommunisten, die die Zeit des Faschismus überlebt hatten, zu sammeln. Noch einmal können wir anhand der Erlebnisse im Apparat des ZK und an der SED-Parteischule in Kleinmachnow die Anfangszeit vor Gründung der DDR nachvollziehen. Leonhard lüftet jetzt den Schleier, der - welcher Anlass für Spekulationen! - über seiner Flucht nach Belgrad lag. Er berichtet über sein Wirken beim Rundfunk in Belgrad, im Jugoslawien Titos. Dann die Gründung einer Tito-freundlichen, unabhängigen linken Partei (UAP), die aufgrund fehlender Mittel aufgeben musste.
Spannend sind vor allem jene Kapitel, in denen Leonhard als Mitwirkender erzählt. Später wird er Beobachter, Yale-Professor, Kommunismus-Experte. Das ist ein dröger Stoff auch für Meister der Erzählkunst. Die vielen Persönlichkeiten, mit denen er zu tun bekam bzw. über die er hier im Zusammenhang berichtet, ergeben einen kleinen »Who is Who« der Geschichte des real existierenden Sozialismus.
Der erste »Botschaftsflüchtling« und »erste Dissident der DDR« (noch vor ihrer Gründung) erzählt sachlich von den Anfängen in der sowjetischen Besatzungszone, ohne Verurteilungen und Denunziationen Dritter, mit einer differenzierten Beurteilung seiner eigenen Beteiligung. Ob der Begriff der »bürokratischen Diktatur« allen politikwissenschaftlichen Facetten gerecht werden kann, mag dahingestellt bleiben. Aber er charakterisiert Realitäten. Wesentlich bleiben die Berichte über die Anfänge des Zentralismus, die Bevormundung der Parteibasis, die Isolierung der Parteiführung vom Volk.
Wichtig bleiben die Schilderung der großen Hoffnungen und Erwartungen mit Bezug auf einen demokratischen Sozialismus. Der Stalinismus wird zu Recht als Gegner des demokratischen Sozialismus benannt. Der Bezug auf Walter Janka, Robert Havemann und andere, auf den Prager Frühling wie auch auf die Zeiten vor und nach der Wende erinnert eindringlich an die Widersprüchlichkeit und die Keime des demokratischen bei allen Irrungen des realen Sozialismus. Insgesamt liegt eine spannend erzählte zeitgeschichtliche Betrachtung ohne Schwarz-Weiß-Malerei und einseitige Schuldzuweisungen vor. Die eindringliche Schilderung, wie die bürokratischen, undemokratischen Verwerfungen in den Strukturen und im Apparat der Partei begannen, ist lehrreich auch für eine neue Linke in Deutschland. Leonhard verweist auf das Persönliche in »seiner« DDR, die er anders haben wollte. Ganz unpersönlich ernst ist sein Kampf gegen stalinistische Strukturen. Wir verstehen mit seiner Hilfe noch besser, warum das aktuell bleibt.
Meines Erachtens irrt er mit seiner Wertung der Ostpolitik der SPD. Ich halte dagegen, dass mehr Pressionen möglicherweise mehr Restriktionen und Abschottungen zur Folge gehabt haben könnten. Aber das mildert den Wert dieser lesenswerten antistalinistischen Streitschrift nicht.
Mir ist dieses Buch auch für meine ganz persönliche Sicht auf »meine DDR« wichtig. Und so empfehle ich es als spannende, lehrreiche Lektüre für zeitgeschichtlich und politisch interessierte Nachgeborene.

Wolfgang Leonhard: Meine Geschichte der DDR. Rowohlt Berlin. 288 S., geb., 19,90 EUR

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -