Mutiger denken und werden

fds-Bundessprecherin Luise Neuhaus-Wartenberg warnt davor, die Debatten in der LINKEN von rechts bestimmen zu lassen

  • Luise Neuhaus-Wartenberg
  • Lesedauer: 10 Min.

Die LINKE hat bei den Bundestagswahlen mehr als eine halbe Million Stimmen hinzugewonnen. Das ist angesichts der erstmals in den Bundestag eingezogenen AfD und eines Generationenwechsels an der Spitze der Bundestagsfraktion alles andere als selbstverständlich. Zwar sind wir weder zweistellig geworden noch drittstärkste Kraft, aber immerhin: Ein halbes Prozent mehr ist es doch geworden. In den westlichen Bundesländern haben wir Stimmen hinzugewonnen, in den ostdeutschen Flächenländern – außer Berlin – verloren. Manche wollen das in eine riesengroße Niederlage umdeuten. Dabei ist es doch erstmal ein ganz passables Ergebnis.

Trotzdem wirkt unsere Partei alles andere als fröhlich. Auch ich erwische mich dabei, in dieses Muster zu fallen. Sobald mir Leute zu dem Ergebnis gratulieren, verfalle ich in ein »Ja, aber.« So ist DIE LINKE eben. So sind wir. Gregor Gysi sagte einmal, dass unsere Partei mit zwei Dingen schlecht umgehen könne, mit Siegen und mit Niederlagen. Warum, so fragt man sich, geht die Debatte weniger um die halbe Million gewonnener Stimmen? Warum dreht sie sich stattdessen um die Abwanderung von früheren Wählerinnen und Wählern nach rechts?

Luise Neuhaus-Wartenberg
Luise Neuhaus-Wartenberg ist Abgeordnete im Sächsischen Landtag sowie Mitglied des Parteivorstands der LINKEN. Seit Ende Juni 2014 ist sie zudem Bundessprecherin des Forum Demokratischer Sozialismus (fds).

Das ist umso verwunderlicher, als dass wir doch vorher wussten, dass unsere Partei auch schon in der Vergangenheit teilweise nicht wegen, sondern trotz ihrer Positionen gewählt wurde. Aber deswegen eine Rolle rückwärts machen? Ja, unsere Standhaftigkeit bei der Unterstützung von Menschen in Not, unser Bekenntnis zum Grundrecht auf Asyl und zur Genfer Flüchtlingskonvention mag uns etwas gekostet haben. Nicht erst in diesem Wahlkampf kamen an unsere Infostände auch Leute, die gesagt haben: »Ich wähle Euch, aber das mit den Ausländern…« Warum gibt es jetzt diese Aufregung? Das ist nicht nur deprimierend, sondern auch unklug, weil wir unsere Debatten damit von rechts bestimmen lassen.

Arbeiter*innen als natürliche Verbündete?

Mit Blick auf das Wahlergebnis wird die Frage gestellt, warum die Zustimmung von Arbeiter*innen und Erwerbslosen für uns zurückgegangen, diese dafür aber bei den Rechten gestiegen sei. Sahra Wagenknecht, Oskar Lafontaine und andere leiten daraus die Folgefrage ab, ob wir an unserer Flüchtlingspolitik etwas ändern müssten.

Aber ist nicht schon die dem zugrunde liegende Annahme falsch, dass die Werktätigen und Erwerbslosen natürliche Verbündete der Linken sein müssten? Ja, wir machen engagiert für sie und – soweit sie es wollen – mit ihnen Politik. Aber dass wir, die PDS oder gar die SED deshalb Arbeiter*innenparteien waren, darf man getrost bestreiten. Anders als Oskar Lafontaines SPD haben uns auch in der Vergangenheit schon vor allem andere Milieus gewählt. Und man kann sich das europaweit anschauen: Links sein orientiert sich nicht unbedingt an der unmittelbar ökonomischen Lage. Links sein orientiert sich auch an einer kulturellen Weltsicht und an einem Verhältnis zu Freiheit und individueller Selbstbestimmung.

»Satt, warm und 30 Tage Urlaub« – das erfüllt den Sinn des Lebens für viele schon lange nicht mehr. Der Alltag ist es, der sehr aufs Gemüt drücken kann. Da ist der Job, da ist die wenige oder nicht zufrieden stellende Freizeit, die vielleicht mit Doku-Soaps und Katastrophennachrichten ausgefüllt ist. Auch die kulturelle, demografische und ökonomische Ausdünnung des ländlichen Raums hat Konsequenzen. Wir sollten uns daran erinnern, dass 1989 viele gegen das »System« und führende Vertreter*innen der »Partei der Werktätigen« auf die Straße gegangen sind – trotz günstiger Mieten, eines funktionierenden Schulhort-Systems oder flächendeckender Gesundheitsversorgung. 1990 als sie es durften, haben sie in freien Wahlen CDU gewählt. Das Gefühl eines jeden Einzelnen spielt eine ganz entscheidende Rolle, ob er oder sie sich als Teil von etwas fühlen oder eben auch nicht.

Fakten haben als Argumente in der politischen Debatte leider immer mehr ausgedient. Wenn es stimmt, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, dann machen solcher Art geistlose Verhältnisse viele Menschen heute quasi bewusstlos. Auf dieser Grundlage gedeihen und verstärken sich dann Vorurteile und Ressentiments. Wir als Linke werden uns dem nicht ergeben, sondern entgegenstellen.

Keine reine Protestpartei

Wir wussten auch, dass wir lange Zeit mehr als heute auch aus Protest gewählt wurden. Und wir wussten, dass wir eine reine Protestpartei in dieser Form nicht mehr sein können. Eine Partei, die einen Ministerpräsidenten stellt, die an Landesregierungen beteiligt ist, deren Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, Landrätinnen und Landräte und deren Europaabgeordnete, Bundestags-, Landtags- und Kommunalfraktionen versuchen tagtäglich das Beste für jene herauszuholen, die sie gewählt haben, hat eben eine andere Rolle als nur »Schnauze voll!« und »Weg mit …!« zu rufen.

Deshalb: Beenden wir die Phase der schnellen »Analysen« derer, die doch immer nur das bestätigen wollen, was sie schon immer sagten. Weder blinder Aktionismus noch die von machtpolitischen Fragen dominierten innerparteilichen Personaldebatten bringen uns einen Schritt weiter.

Im Hinblick auf unsere Mitglied- und Wählerschaft fällt besonders auf, dass die 30- bis 40-Jährigen stark unterrepräsentiert sind. Also jene Generation, von der man ohne Umschweife behaupten kann, dass sie zur aktivsten in unserer Gesellschaft gehört – und zu jenem Teil von ihr, der tagtäglich mit den vielfältigsten Problemen zu kämpfen hat: Wohnen, Kinder, Karriere, Rentenvorsorge, Erwerbsarbeit oder (Solo-)Selbständigkeit … das sind nur einige Stichworte. Die Tatsache, dass uns diese Generation am wenigsten von allen zugewandt ist, deutet darauf hin, dass unsere programmatischen Antworten nur bedingt alltagstauglich und im Leben der Menschen verankert sind.

Vielleicht liegt die Begründung, warum wir keine Antworten für diese Menschen haben, auch in unserer Parteistruktur. So dominieren zum großen Teil immer noch die Älteren unsere Partei, auch weil es ihnen wesentlich leichter fällt ehrenamtliches Engagement in ihr Leben einzubinden.

Neues zulassen

Fangen wir deshalb an, vorwärts zu denken. Fangen wir an, mutiger nicht nur zu denken, sondern vor allem auch zu werden. Fangen wir endlich an zu verstehen, dass es sehr unterschiedliche Ansprüche und Erwartungen an DIE LINKE gibt. Die Partei hat sich verändert. Sie ist nicht mehr die PDS aus dem letzten Jahrhundert und schon gar nicht die SPD Westdeutschlands der achtziger Jahre. Es kommen erfreulich viele junge Mitglieder zu uns, die außer aus unseren Erzählungen »von früher« davon kaum etwas wissen. Das verlangt, Neues zuzulassen, auch wenn es total verrückt erscheinen mag. »Das haben wir schon immer so gemacht« und »Das hat es noch nie so gegeben« – diese Slogans haben beim fds ausgedient. Und: Wir werden nur vorankommen, wenn wir nicht immer nur rückwärts romantisierend auf den »Mann der Arbeit« blicken, der sich seiner Klassenzugehörigkeit bewusst ist.

Der Eindruck, wir würden uns in unserer linken Welt nur noch um Akademiker*innen und Reinigungskräfte »kümmern«, verstärkt sich immer mehr und das auch in der eigenen Mitgliedschaft.

Schauen wir doch auch einmal auf diejenigen, die uns mehr als sonst gewählt haben. Das birgt doch Hoffnung, und darüber sollten wir uns freuen. Früher haben wir die Intellektuellenfeindlichkeit unserer Partei bejammert. Wir haben bei den Jüngeren und bei den höher gebildeten besser abgeschnitten. Oft haben sie neue, andere Lebensentwürfe, die darauf gerichtet sind, ihre Freiheiten zu verteidigen und zu erweitern, sowohl in ihren beruflichen Tätigkeiten als auch gegen Zumutungen staatlicher Kontrolle und Drangsalierung.

Vielfach sind das genau diejenigen, die sich dem fremdenfeindlichen und nationalistischen Wahnsinn entgegen stellen und deshalb Anfeindungen ausgesetzt sind. Denen müssen wir Partnerin sein wollen. Es sieht so aus, dass sie besonders in (Groß)Städten leben. Vielfach wird vom »urbanen Milieu« gesprochen, verbunden mit der Warnung, man dürfe sich nicht nur dieser Klientel zuwenden.

Eine Antwort: Soziale Gerechtigkeit

Das hat zwar niemand gefordert, aber man kann ja schon mal vorsorglich warnen. Warum will man uns zu einem »Entweder oder« zwingen? Warum trauen wir uns nicht zu, das eine zu tun ohne das andere zu lassen? In Prenzlauer Berg, in Freiburg oder Leipzig-Connewitz zuzulegen, ohne in Bitterfeld-Wolfen, Bochum oder Nordsachsen zu verlieren – das muss unser Ziel sein! Und wir haben eine gemeinsame Antwort für unterschiedliche Regionen und Milieus: unseren Markenkern, die soziale Gerechtigkeit!

Natürlich müssen wir das Auseinanderdriften von Städten und ländlichen Regionen im Blick behalten und den Fokus neu ausrichten. Abgehängte Regionen gibt es in Ost und West. Wir sind an der Seite derer, die in Gelsenkirchen oder Bremerhaven durch das löchrige soziale Netz zu fallen drohen – ebenso wie an der Seite jener in Ostvorpommern oder Nordsachsen. Mein Wahlkreis ist ein Beispiel dafür. Dort wie hier müssen wir dicke Bretter bohren und Vorschläge machen, wie diese Gegenden lebenswerter werden. Das betrifft den Nahverkehr, technische und kulturelle Infrastruktur, bürgernahe Verwaltung, Schulsanierung oder auch medizinische Versorgung und ein anderen Anspruch an Sicherheit, der über einen zu engen Begriff von sozialer Sicherheit hinausgeht.

Für die östlichen Bundesländer war die Geschichte der letzten 27 Jahre prägend. Natürlich hat sie Spuren hinterlassen. Das zu respektieren, sollte für Westdeutsche ebenso selbstverständlich sein, wie für Ostdeutsche, die Konsequenzen der Deindustrialisierung im Ruhrgebiet ernst zu nehmen.

Wer in den Neunzigern im Osten am Infostand auf die Mütze bekommen hat, weil er oder sie für einen wirklichen Sozialismus eintrat und nun erneut auf der Straße vom rechten Pöbel angegriffen wird, weil er oder sie eine Haltung vertritt, die dort alles andere als Mehrheitsmeinung ist, verdient unseren Dank und unsere Unterstützung. Was das für unsere Genoss*innen heißt, ist klar. Wer in Westdeutschland in den Neunzigern in der Fußgängerzone als Vertreter*in einer Mauermörderpartei beschimpft wurde und trotzdem bis heute dabei ist, obwohl inzwischen ganz andere in den Kreisverbänden das Sagen haben, verdient das ebenso.

Eigene Positionen erarbeiten

Die Kunst einer linken Partei besteht darin, nicht zuerst Wähler*innen und ihren vermeintlichen Wünschen hinterherzulaufen, sondern eigene Positionen zu erarbeiten. Wir wollen eine Zukunftsdebatte mit konstruktiver Veränderungsperspektive anstoßen. Wir wollen gemeinsam Antworten auf die Fragen der Zeit suchen und finden:

Wie hat sich Arbeit verändert und verändert sie sich weiter?
Was ist überhaupt der Begriff Arbeit für uns als Partei?
Wohin soll sich die Europäische Union entwickeln?
Was setzen wir dem Eingriff in persönliche Daten und Freiheiten entgegen?
Wie wollen wir die Sozialsysteme stabilisieren und verbessern?
​Was bedeutet es in einer globalisierten Welt, Probleme lokal zu lösen?

Wäre es nicht ein zutiefst linker Ansatz, mit der Erfahrung der Geschichte der DDR und der Ereignisse von 1989/90 sowie der jüngsten Geschichte im Rücken zu erkennen, dass die Kluft zwischen Bürger*innen und sogenannter politischer Elite, sowohl lokal als auch regional größer wird? Und dass diese Kluft durchsetzt ist mit fehlendem Vertrauen oder gar Misstrauen? Und dass in Fragen der Mitbestimmung eben Ortschaftsbeiräte nicht ausreichen und eine Art Identifikation sowie der Anerkennung nur dann funktioniert, wenn Leute wirklich mitmachen können und tatsächlich entscheiden dürfen, wir also kommunale und regionale Politik nicht nur fiskalisch betrachten? Müsste man von links aber nicht auch fragen, warum viele Menschen nicht stärker mitbestimmen wollen, selbst wenn sie es könnten?

So manche Debatte ist in den letzten Jahren in unserer Partei abmoderiert oder in Arbeitsgruppen beerdigt worden. Das ist nicht gut. Debatten müssen geführt werden. Das gilt für das Bedingungslose Grundeinkommen, eine vernünftige Friedenspolitik, eine Migrationspolitik, die solidarisch und realistisch ist, und vieles andere mehr gleichermaßen. Wir haben davor keine Angst. Im Gegenteil, wir freuen uns darauf!

Denn die Vermutung, dass die Spaltung der Partei drohe, wenn sie wirklich die Dinge ausdiskutiert, ist schlichtweg falsch. Debatten beleben das »Geschäft« und mobilisieren die Partei. Sie erzeugen nicht nur das Gefühl, sich beteiligen zu können und tatsächlich gehört zu werden, sondern ermöglichen tatsächlich politische Teilhabe.

***

Es wäre schön, wenn Diskussionen in unserer Partei sich künftig wieder mehr am Inhaltlichen orientieren würden. Besonders dies ist das fds unserem verstorbenen Bundessprecher Dominic Heilig von ganzem Herzen schuldig. Wir werden ihm auf der diesjährigen Akademie in Leipzig gedenken und alles daran setzen, dass wir das, was er begonnen hat, als Partei und als fds, weiter mit Leben füllen. Er fehlt. Trotzdem wird das Forum Demokratischer Sozialismus ganz in seinem Sinne versuchen, dabei ein wenig fröhlich zu sein.

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