Ausflüge ins Land der Fantasie
Theater an der Parkaue eröffnete mit einer Doppelpremiere: »In dir schläft ein Tier« und »Unendliche Geschichte«
Er habe sein Leben lang den »Ausgleich zwischen der Welt der harten Fakten und der Welt der Fantasie« gesucht - bekannte der Schriftsteller Michael Ende. Zwei Inszenierungen von Texten, die ins Lands der Fantasie führen, hat das Theater an der Parkaue zur Wiedereröffnung der Spielstätte als Doppelpremiere herausgebracht.
Für seine »Unendliche Geschichte« hatte Ende ursprünglich ein Werk von 100 Seiten geplant, der Stoff aber sei ihm »unter den Händen explodiert« . Es ist die Geschichte vom lesehungrigen Jungen Bastian, der sich hemmungslos in ein Buch vertieft, dabei zum Mitspieler wird, zahlreiche Irrwege geht und schließlich das Wasser der Erkenntnis trinkt und seine Identität zurückgewinnt. Auf 428 Seiten verfolgen wir den Weg Bastians und des von ihm geschaffenen Helden aus der Graswelt, Atreju. Der führt sie über die Wandernden Berge, den Nachtwald Telegin, die Wüste Goab, die Tote Stadt, die Sümpfe der Traurigkeit, die Silberstadt sowie das Land Morgul mit seine kalten Feuern. Beide müssen sich ungeahnten Herausforderungen stellen. Atreju muss sich vom tödlichen Biss des Werwolfs befreien und auf der feurigen Mähne des Löwen aus der Gluthitze der Wüste reiten, Bastian eine Geschichte erzählen, die wahr wird und das Leben in der Silberstadt verbessert.
Regisseur Volker Metzler sucht nach aussagekräftigen Bildern und berücksichtigt dabei die technische Machbarkeit und die Erfahrungswelt der Zuschauer. Das Pferd Artax versinkt nicht jämmerlich im Sumpf, sondern wird im tödlichen Nebel begraben und die zum Elfenbeinturm eilenden Botschafter sind nicht der Winzling auf der Rennschnecke oder der Felsenfresser auf dem Felsenrad, sondern lebensgierige Jungen und Mädchen. Trotz absichtsvoller Verknappung sind Längen und Wiederholungen nicht zu übersehen. Manche Gruppentänze blähen sich zu abendfüllender Breite auf, eine Opernarie verselbstständigt sich. Den Bastian spielt Jacob Kraze und setzt Maßstäbe hinsichtlich Differenzierung und Individualisierung. Zunächst ist er nicht der wissbegierige Schüler von Endes Buch, sondern ein abgestumpfter Zeittotschläger; später gewinnt er zusehends Freude am Mitspiel, spreizt sich eitel bei der Ernennung zum Nachfolger der Kindlichen Kaiserin und stürzt sich wutentbrannt auf den vermeintlichen Verräter Atreju. Dieser Bastian hat Selbstironie und Lebensekel, Begeisterungsfähigkeit und Mut. In Fragen der Individualisierung ist er innerhalb des Spielensembles eine Ausnahme, ansonsten dominiert stärker der marktschreierisch illustrierende Ton. Kinga Schmidt als die umworbene Olglamar kommt aus einem hysterischen Zickenton kaum heraus, Tim Riedel als Artreju ersetzt fast durchgängig konkrete Haltung durch Lautstärke und Dauererregtheit.
Auf andere Weise stößt Regisseurin Hanna Müller mit ihrer Inszenierung von Schmaerings »In dir schläft ein Tier« in Phantasiewelten vor. Das Stück hat die Entwicklung des Impfstoffs gegen Diphtherie durch die Ärzte Ehrlich und Behring zum Inhalt. Zu Beginn erscheint ein Wolfsrudel, erklärt die Freiheit zu seiner Königin, behauptet, dass die Geister der Vorahnung auf ihrem Rücken mitreiten und sieht das Unheil mit der Erkrankung des Mädchens Ultima voraus. Böse Vorahnung treibt sie zu gehetzt ektstatischen Bewegungen. Später werden sie angesichts von Ultimas Erkrankung in tiefe Trauer verfallen.
Eine Dame mit wallendem weißen Gewand und hohen Stiefelabsätzen (Mira Tscherne) ernennt sich selbst zur Bakterienkönigin und zum »Würgeengel der Kinder«. Sie sagt den Sieg der Bakterien gegen die Wissenschaftler voraus und beruft sich auf vergangene Siege. Den Wissenschaftlern hält sie mit Siegerlächeln entgegen: »Ihr habt diesen Krieg begonnen und ihr werdet ihn verlieren«. Theatralische Erfindungen veranschaulichen und verfremden gleichzeitig. Im Moment der Siegeshoffnung von Ehrlich und Behring drehen sich in rasender Geschwindigkeit Laufräder mit Reagenzgläsern.
Die Form des Clownsspiels schafft ungewöhnliche Erkenntnis. Darstellerisch fällt ein Leistungsgefälle auf. Andrej von Sallwitz gibt dem Ehrlich individuelle Züge, zeichnet ihn als sympathisches großes Kind, während Erik Born als Behring ein funktionierender Durchpeitscher ist.
»Die unendliche Geschichte«, 13. bis 16. November; weitere Termine im November, Dezember und im Januar 2018. »In dir schläft ein Tier«, 13. und 15. November; weitere Termine im Januar 2018. Theater an der Parkaue, Parkaue 29, Lichtenberg; www.parkaue.de
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