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Ermittlungsakten: Oury Jalloh wurde in Dessauer Polizeizelle vermutlich ermordet

Mehrere Gutachter laut Medienbericht: Tod durch Fremdeinwirkung wahrscheinlicher / Staatsanwältin sieht keine neuen Erkenntnisse

  • Lesedauer: 4 Min.

Update 15.50 Uhr: Staatsanwältin sieht keine neuen Erkenntnisse
Die Staatsanwaltschaft sieht im Fall Oury Jallohs keine neuen Erkenntnisse. Alles, was von Sachverständigen und an Gutachten vorliege, sei aktenkundig gewesen, als die Entscheidung über die Einstellung des Verfahrens getroffen wurde, betonte Oberstaatsanwältin Heike Geyer am Donnerstag. Sämtliche Informationen der ARD-Sendung »Monitor« sei »Bestandteil der Akten« gewesen, unterstrich die Staatsanwältin. Dass man Ergebnisse von Gutachten unterschiedlich bewerte, sei nicht ungewöhnlich. »Wir haben völlig eigenverantwortlich die Akten eingesehen und sind zu einer anderen Bewertung gekommen als die Staatsanwaltschaft Dessau«, sagte Geyer. Die Akten würden voraussichtlich noch zur Generalstaatsanwaltschaft gehen, die dann die unterschiedlichen Auffassungen prüfe.

Ermittlungsakten: Jalloh wurde in Dessauer Polizeizelle vermutlich ermordet

Köln. Der 2005 in einer Dessauer Polizeizelle verbrannte Asylbewerber Oury Jalloh wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit getötet. Das geht aus Ermittlungsakten zu dem Fall hervor, die dem ARD-Magazin MONITOR (WDR) vorliegen. Die Staatsanwaltschaft Halle will die Ermittlungen dennoch einstellen.

Mehrere Sachverständige aus den Bereichen Brandschutz, Medizin und Chemie kommen laut der Unterlagen mehrheitlich zum dem Schluss, dass ein Tod durch Fremdeinwirkung wahrscheinlicher sei als die lange von den Ermittlungsbehörden verfolgte These einer Selbstanzündung durch den Mann aus Sierra Leone. Das sind die Ergebnisse der jüngsten Gutachten und Brandversuche, die sich detailliert mit der Frage nach dem Ausbruch des Feuers in der Arrestzelle beschäftigen.

Sogar der langjährige Ermittler der Staatsanwaltschaft Dessau, der leitende Oberstaatsanwalt Folker Bittmann, bislang ein Verfechter der Selbsttötungs-Theorie, geht in einem Schreiben vom April dieses Jahres daher von einem begründeten Mordverdacht aus. Er hält es demnach für wahrscheinlich, dass Oury Jalloh bereits vor Ausbruch des Feuers mindestens handlungsunfähig oder sogar schon tot war und mit Brandbeschleuniger besprüht und angezündet worden sei. Oberstaatsanwalt Bittmann benennt in dem Brief sogar konkrete Verdächtige aus den Reihen der Dessauer Polizeibeamten.

»Angesichts der neuen Erkenntnisse ist die drohende Einstellung des Verfahrens ein Skandal«, so die Anwältin der Familie Jalloh, Gabriele Heinecke, gegenüber MONITOR. Die Staatsanwaltschaft Dessau hatte sich nach 12 Jahren Ermittlungen mit den neuen Erkenntnissen im April an den Generalbundesanwalt gewandt, dieser hatte die Annahme des Falles jedoch abgelehnt und ihn nach Sachsen-Anhalt zurück verwiesen. Die im Anschluss befasste Staatsanwaltschaft Halle will den Fall laut einer Erklärung vom 12. Oktober 2017 einstellen, weil sich »keine ausreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für eine Beteiligung Dritter an der Brandlegung« ergeben hätten. Eine weitere Aufklärung sei nicht zu erwarten. Die Anwältin der Familie hat gegen die Einstellung Beschwerde eingelegt und wird angesichts der neuen Erkenntnisse Strafanzeige erstatten.

Die Experten hatten in ihren Stellungnahmen ausgeführt, dass sich der Zustand der Zelle und des Leichnams Jallohs nach dem Brand nicht ohne Einsatz geringer Mengen von Brandbeschleuniger wie etwa Leichtbenzin erklären lasse. Auch sonst deute vieles darauf hin, dass der Brand von dritter Hand gelegt worden sei. Zudem sei die Theorie der Selbstanzündung so gut wie auszuschließen: Oury Jalloh sei vermutlich bei Brandbeginn komplett handlungsunfähig oder sogar bereits tot gewesen, so dass die Annahme, er habe das Feuer selbst gelegt, nicht stichhaltig sein könne.

Bereits bei einer Anhörung des Rechtsausschusses im Magdeburger Landtag am vergangenen Freitag war bekannt geworden, dass die ehemaligen Ermittler aus Dessau den Fall Jalloh mittlerweile neu bewerten, die federführenden Kollegen aus Halle aber auf Einstellung des Verfahrens beharren. Eine daraufhin von den Linken geforderte Akteneinsicht kam nicht zustande: Die Regierungskoalition aus CDU, SPD und Grünen im Magdeburger Landtag lehnte das ab. Die innenpolitische Sprecherin der LINKEN im Landtag von Sachsen-Anhalt, Henriette Quade, spricht gegenüber MONITOR von »politischer Blockadehaltung« und wiederholte ihre Forderung nach einem Sonderermittler wie etwa im Fall des NSU. »Er sollte von außerhalb von Sachsen-Anhalt kommen«, sagte sie, »denn in Magdeburg ist von Seiten des Justizministeriums kein Aufklärungswille zu erkennen.«

Die Staatsanwaltschaft Halle war am Mittwoch für eine Stellungnahme nicht mehr zu erreichen. MONITOR/ARD/nd

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