Die Odyssee der Leipziger Grabtafeln
Vor Eröffnung des Paulinums: Ausstellung erinnert an Schicksal des Inventars der gesprengten Unikirche
Es musste rasend schnell gehen. Sieben Tage nur lagen zwischen dem Beschluss des Leipziger Stadtrats, der das Schicksal der Universitätskirche St. Pauli besiegelte, und ihrer Sprengung am 30. Mai 1968. Viel zu wenig Zeit für die fachgerechte Bergung des Inventars, zu dem auch rund 60 Epitaphien gehörten: überaus prunkvolle Grabtafeln aus Stein, Holz oder Metall, die die Chorwand zierten und teils mehr als eine Tonne wogen. Immerhin: Es gelang, sie vor der Zerstörung des Sakralbaus abzunehmen und im Keller des Reichsgerichts zu verstauen. Sie überlebten, aber sie litten enorm. Vieles war »nur noch ein Haufen Schrott«, sagt Rudolf Hiller von Gaertringen, der Kustos der Universität, anlässlich einer Ausstellung über die Epitaphien, die bis 16. Dezember an der Uni zu sehen ist.
Dort erstrahlen bald auch die zwischenzeitlich zu »Schrott« gewordenen Kunstgegenstände wieder in altem Glanz, angebracht im neuen Paulinum, das die Universität am 1. Dezember offiziell einweiht. Der von Architekt Erick van Eggeraats entworfene Bau wird sowohl als Aula wie auch für kirchliche Zwecke genutzt; er erinnert in seiner äußeren Gestalt an die frühere Kirche. Diese hatte den Zweiten Weltkrieg unversehrt überstanden, störte die Stadtplaner in der DDR aber bei der Neugestaltung des Stadtzentrums rund um den damaligen Karl-Marx-Platz. Diese solle in einer »modernen, unserer sozialistischen Gesellschaft würdigen Bauweise« erfolgen, schrieb Erich Grützner, Vorsitzender des Rates des Bezirkes, im Mai 1968 in eine Brief. Das bedeute auch, dass »die gesamte Altbausubstanz beseitigt werden muss«. Die Kirche wurde also gesprengt, der Schutt in eine Sandgrube am Stadtrand gekippt. Es war ein Schritt, den viele Leipziger mindestens als unnötig empfanden und der verbreitet auf Empörung stieß.
Ein halbes Jahrhundert später hat der Platz um Oper, Gewandhaus und das markante Uni-Hochhaus sein Gesicht schon wieder verändert. Es sei, sagt Kustos Hiller von Gaertringen, bereits »die fünfte Transformation« des Platzes, an dem zunächst ab dem Jahr 1231 der Dominikanerorden ein Kloster errichtet hatte und später immer wieder neu gestaltete Zentralgebäude für die Universität errichtet wurden. Der nach der Sprengung der Kirche in der DDR-Zeit errichtete Bau mit dem markanten Marx-Relief über dem Eingang ist knapp 50 Jahre später schon wieder Geschichte. An seiner Stelle steht der Eggeraats-Bau mit seiner flirrenden, spiegelnden Fassade. Dahinter liegt ein hoher, an ein Kirchenschiff erinnernder Raum mit hängenden Säulen, deren gerippte Schäfte der Architekt aus mattem Glas hergestellt wissen wollte - was den Freistaat als Bauherren und verschiedene Herstellerfirmen fast zur Verzweiflung brachte und das Vorhaben scheitern ließ, den Neubau zum 600-jährigen Jubiläum der Uni im Jahr 2009 in Betrieb zu nehmen. Nun finden Festakt, Gottesdienst und Bürgertag zum 608. Gründungstag statt.
Der Kustos ist über die Verspätung nicht unglücklich: »Das kam uns zugute«, räumt er unverblümt ein. So blieb mehr Zeit für die sehr aufwendige Restaurierung der Epitaphien, die 2002 begann - nach einer Odyssee. Im Keller des Reichsgerichts, in dem damals das Leipziger Bildermuseum ansässig war, lagerten die Einzelteile der Grabtafeln unsortiert und unter denkbar ungünstigen Bedingungen - mit der Folge, dass Steine brachen, Metall korrodierte und Holz schimmelte sowie von Würmern zerfressen wurde. Eine Diplomarbeit von 1970, die nie publiziert werden durfte, dokumentierte den beklagenswerten Zustand. Im Jahr 1983 zog der Altar der gesprengten Kirche in die Thomaskirche um, die übrigen Kunstgegenstände wanderten in ein Depot in der Heilandskirche in Plagwitz. Dort lagen sie »im Limbo«, wie es die Ausstellung formuliert - in Anspielung auf die katholische Vorstellung von einem äußeren Höllenkreis, in dem schuldlos vom Himmel ausgeschlossene Seelen quasi in der Luft hingen. Der unklare Zustand für die Kunstgegenstände endete erst nach 1989, als die Universität die Grabtafeln wieder in Besitz nahm und Teile davon an unterschiedlichen Orten auch wieder auszustellen begann, zuletzt ab 1997 dauerhaft im Rektorat.
Im neuen Paulinum haben nun 30 der Epitaphien einen Platz gefunden, die Hälfte der ursprünglichen Tafeln, von denen 45 »zu nennenswerten Teilen« erhalten blieben, sagt Hiller von Gaertringen - von denen also mehr blieb als ein steinerner Schädel oder ein rostiger Wappenschild. Sie mussten dennoch aus verstreuten Teilen zusammengepuzzelt und in mühevoller Kleinarbeit restauriert werden; einen entsprechenden Arbeitstisch hat man in der Ausstellung nachgestaltet. Fehlende Teile wurden durch stilisierte Nachbildungen ersetzt, die ein Hallenser Metallgestalter schuf. Deren Gestaltung und nicht zuletzt ihre Farbgebung, die durch Eloxieren erfolgte, erwiesen sich als langwieriges und kostspieliges Unterfangen. Insgesamt, sagt der Kustos, habe die Restaurierung 1,2 Millionen Euro gekostet, von denen immerhin zwei Drittel durch Spenden aufgebracht wurden. Auch die Anbringung der durch ihre reiche Verzierung sehr gewichtigen Tafeln bereitete den Statikern Kopfzerbrechen; schließlich ist der Innenraum des neuen Paulinums kein echtes Kirchenschiff mit Ziegelmauern und Steinsäulen. Das gewölbte Dach besteht aus einem Drahtgestell und gipsernen Wölbungen, auf denen die Kreuzrippen angebracht wurden. Die Vorrichtungen zur Befestigung der Grabtafeln mussten bereits bei der Konstruktion bedacht werden.
Von diesen wird im neuen Paulinum ebenso wenig zu sehen sein wie vom zwischenzeitlich beklagenswerten Zustand des Inventars aus der früheren Kirche. Die Ausstellung soll deshalb zumindest ein paar Wochen lang einen Blick hinter die Kulissen und in die Werkstatt der Restauratoren ermöglichen - und vielleicht, so hofft der Kustos, auch weitere Spender gewinnen, etwa für die Sanierung eines Epitaphs für den Leipziger Dichter Christian Fürchtegott Gellert.
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