So schwer, so zart

Für Wildgruber

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.

Der schwitzend zarte Ulrich Wildgruber kam nur scheinbar daher wie ein Gewaltiger. Er setzte den krachenden Schritt federnd, als sei Gehen einzig ein Ausdruckt der Anmut. Manchmal war er ein fauchendes Tier, manchmal ein gottbeglänzter Mensch. Er prüfte, was der Mensch sei, so ewig zwischen Tragödie und Komödie. Die Übergänge zwischen beiden bildeten das Wunder seines Spiels.

Toll! In Abständen, für die es kein Gesetz gibt, schafft sich die Kunst eine Zeit der schweren Männer. Der schäumende Lebenslüstling Heinrich George. Der klassizistisch tönende Will Quadflieg. Der düster flammende Willy A. Kleinau. Der erdige, schwer-kindige Kurt Böwe. Der grantig tapsende Gerd Fröbe. Heute: vielleicht der besessene Lakoniker im Niederwalzen alles Künstlichen, Thomas Thieme. In diesen Wuchtigen und Wanstigen des Theaters und des Films möchte die Kraft einen Nachweis bringen: dass sie den Tanzfuß wohl zu führen weiß. Dass sie zu schweben versteht. Dass sie dabei aber Kraft bleibt und dass die Raumverdrängung ein sinnlicher Vorgang ist.

Wildgruber gehört auch in diese Reihung. Er war einer der wunderlichsten Schauspieler. Einer von der Zadek-Familie. Wenn er auftrat, spielte er nicht schlechthin, er machte er auf der Bühne Erfahrungen mit der eigenen, ihn so quälenden Unvollkommenheit. Das machte seine Kunst so naiv, so schockierend, so tölpelhaft, so königlich verletzlich. Seine Verstörung brüllte nach Kontakt, seine Isolation nach Liebe. Er hat an seinem Beruf gelitten, so sehr lebte er ihn. Oder hat der Beruf ihn gelebt? Er löste in bestimmten Zeiten Protest-Orkane aus, die mit den Ovationen derart in der Balance lagen, dass sich für den Schauspieler beides aufheben musste und er nichts wirklich von seiner Arbeit zu erfahren schien. Im legendären Zadek-»Othello« (1976 am Schauspielhaus Hamburg) schrie einer von hinten »Lauter!«, Wildgruber ging ins Publikum, hin zu dem Mann, und spielte die Szene dort noch mal.

Beeindruckt hat ihn der große Schauspieler Hans Mahnke, der einmal zwei Stunden vorm Garderobenspiegel saß, um sein Gesicht zu studieren; dann ging’s hinaus - für einen Sekundenauftritt. Warum spielt ein Mensch? Die Bühne ist ein Ort, so Wildgruber, »der es mir ermöglicht, verhältnismäßig ungeniert darüber Auskunft zu geben, warum ich so betrübt bin über die Tatsache, dass ich nicht fliegen kann«. Bewegenderes las ich nicht, was es heißen kann, dem Leben einen Sinn zu geben. Im November 1999 spielt er noch einmal in Zadeks Wiener »Hamlet«. Als Polonius wird er erstochen. Am Königshof in Dänemark. Am 29. des Monats fährt Wildgruber nach Westerland. Im Gepäck hatte er immer Jean Amery: »Hand an sich legen.« Übergibt sich am Südstrand den Wellen. An Stränden denken die einen, das Wasser käme, andere hoffen, es trüge weg. Am anderen Ufer Sylts liegt Dänemark. Shakespeareland. An diesem Sonnabend wäre Ulrich Wildgruber 80 Jahre alt.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.