Verwandlungszauber der Form

Die Karlsruher Kunsthalle blickt aus einer ganz speziellen Perspektive auf Paul Cézanne

  • Georg Leisten
  • Lesedauer: 4 Min.

Bloß nicht fertig werden! Das wäre das Ende. Die Baumwipfel sind nur rohe Schraffur, zwischen dem Grünbraun der Landschaft schimmert weiße Leinwand durch und manchem Porträt fehlen Mund und Augen: So oder so ähnlich verließen viele Bilder sein Atelier, wenn es ihm denn mal gelungen war, etwas zu verkaufen. Paul Cézanne hasste die Perfektion. Mit allen malerischen Mitteln stemmte sich der Meister aus Aix-en-Provence gegen das Glatte, Runde, Schöne, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch die ästhetische Praxis bestimmte.

An welchen Traditionen sich der Künstler rieb, welche Neuerungstendenzen er aufgriff und wie er sie in die eigene Richtung umlenkte, das will jetzt die Karlsruher Kunsthalle wissen. 150 Arbeiten haben die Badener dazu in einer opulent bestückten, aber sehr herausfordernd konzipierten Schau zusammengetragen.

Wer ist der Bankierssohn, der für die Kunst das Jurastudium schmiss? Im Malerolymp der französischen Moderne steht Cézanne immer etwas abseits. Das mag daran liegen, dass er uns nicht mit den atmenden Sonnenaufgängen und Frühlingsdüften eines Claude Monet kommt, nicht mit der dekorativen Lieblichkeit eines Henri Matisse. Sein Œuvre beschränkt sich auf karge provenzalische Berge, Stillleben mit Äpfeln und Porträts von Menschen, die aussehen, als wären sie Äpfel. Genau von dieser Beobachtung geht Alexander Eiling aus. Für den Kurator gründet das Geheimnis von Cézannes Modernität auf einer Kreuzung der künstlerischen Genres. In die Stillleben flossen Elemente der Landschaft ein, während die Menschen wie brettflache Gebrauchsgegenstände in den Raum gestellt werden. Umgekehrt nimmt mancher tote Felsen menschliche Formen an.

Wie das? Immer wieder, etwa im »Stillleben mit Blumen und Früchten« (um 1890) oder im »Stillleben mit Teekanne« (1902 - 1906), arrangiert der Maler Tischdecken beziehungsweise Teppiche dergestalt, dass der Faltenwurf an schroffe Felsformationen erinnert. So entstehen Draperielandschaften, die mitunter relativ exakt die Konturen von Cézannes Lieblingsberg, der Montagne Sainte-Victoire, erahnen lassen. Gefäße und Kernobst schmiegen sich wie kleine Bauernhäuser in die inszenierte Umgebung ein.

Eine der ungewöhnlichsten Schöpfungen in diesem Zusammenhang ist sicherlich jenes Hybridbild des »Liegenden weiblichen Akts« von 1887. Mit zwei Birnen, die weder perspektivisch in die Komposition passen, noch erzählerisch irgendeinen Sinn ergeben, springt Cézanne hier ganz unverhohlen über die Gattungsgrenze zwischen Akt und Stillleben.

Nicht umsonst lautet der Titel der Schau »Metamorphosen«. Gemeint ist damit, dass der Künstler die Dinge durch die Masken seiner Form verwandelt, verfremdet. Auf banalen Hausrat blickt er mit der wissenschaftlichen Distanz eines Fotografen, der sich die Motive aus hundert Metern Entfernung im Teleobjektiv heranzoomt, ohne ganz scharf zu stellen. Wortwörtlich der Gipfel des Realitätsmorphings ist das Bild einer Felsengruppe bei L’Estaque: Aus dem an sich kantigen Gestein ragen schwellende organische Rundungen heraus. Sie erinnern bei näherem Hinsehen an die Muskeln eines versteinerten Helden, getroffen von einem Ovid’schen Verwandlungszauber. Die Forschung weiß mittlerweile, dass für den verhexten Felsen eine barocke Herkulesfigur Pate stand, die Cézanne in mehreren Bleistiftzeichnungen kopiert hat.

Es spricht grundsätzlich für die Karlsruher Auswahl, dass sie in solchen Fällen passende Vergleichsblätter zur Unterstützung der Ausstellungsthesen bereit hält. Zuweilen aber gerät der Rundgang durch unnötig viele Referenzwerke, die nur für Experten relevant sind, ins Stocken. Hierdurch wirkt das Ganze eher wie die Materialsammlung zu einer kunsthistorischen Dissertation.

Die Hängung verzichtet auf jede Chronologie, um stattdessen saalweise immer neue Einzelprobleme aufzuwerfen und dabei den roten Faden zu verlieren. Vielleicht dauert es deswegen in Karlsruhe unnötig lange, bis man jenen Punkt erreicht, an dem sich Cézannes stilistische Hartleibigkeit in einer neuen Poesie des Auges auflöst. Eine, die absieht von den Details, woraus der unvollendete Charakter vieler Arbeiten resultiert.

Es ist kein Zufall, dass der Maler nach einigen Jahren in und bei Paris wieder in den heimischen Süden zurückgefunden hat. Im Gegensatz zu den Impressionisten und ihrer regenfeuchten Stimmungsmalerei waren für Cézanne die ausgedörrten Sommer wie die stabilen Lichtverhältnisse in der Provence essenziell. Hier präsentierte sich ihm mit knorrigen Baumstämmen, nackten Felsen und den schmucklosen Kuben der Bauernhäuser gleichsam das offengelegte Skelett der Natur.

Das kommende Jahrhundert sollte in diesen fragmentarischen Trockendestillaten die Erbsubstanz der Abstraktion erkennen. Cézanne selbst allerdings entlässt die Gegenstände niemals aus ihrer Erkennbarkeit. Seine bewaldeten Blicke aufs Meer, seine in ihren blauen Mänteln festgefrorenen Bauern und der aus wechselnden Blickrichtungen umkreiste Berg der Heiligen Viktoria bleiben gegenständliche, der Welt abgerungene Form. Als wäre er kein Maler, sondern ein Bildhauer, und seine Pinselstriche Hammerschläge, die ihr eigensinniges Werk aus dem Steinbruch namens Wirklichkeit herausmeißeln.

Am Ende wird man nicht allen Argumentationslinien der Ausstellung folgen wollen, aber so viel Cézanne auf einer Museumsetage verdichtet zu sehen, ist Grund genug für eine Reise nach Karlsruhe.

»Cézanne. Metamorphosen« , bis zum 11. Februar in der Staatlichen Kunsthalle, Hans-Thoma-Straße 2, Karlsruhe

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