Ist Minderheit die neue Mehrheit?

In mehreren Ländern Europas regieren Kabinette, die auf Tolerierungen angewiesen sind

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 3 Min.

Theresa May in Großbritannien tut es, Stefan Löfven in Schweden sowieso, António Costa in Portugal sogar mit Links und Lars Løkke Rasmussen in Dänemark trotz einer Dreiparteienkoalition: Sie alle stehen an der Spitze von Minderheitsregierungen. In Europa ist das Modell weiter verbreitet, als die in Deutschland verbreitete Ablehnung vermuten lässt. Und: Mit einigen Ausnahmen ist diese Form der Machtausübung unterm Strich nicht instabiler als das Regieren mit festen Mehrheiten.

Im Norden Europas sind Minderheitsregierungen seit jeher üblich. Allerdings hat auch hier die Erosion der großen Parteien - Sozialdemokraten, Liberale und Konservative - Spuren hinterlassen. So hatte Schweden im 20. Jahrhundert in der Regel Einparteien-Minderheitsregierungen, zuletzt 1996 bis 2006 jene des Sozialdemokraten Göran Persson. Heute sind Koalitionen nötig für eine halbwegs stabile Minderheit. In Dänemark - hier gab es nach 1945 nur vier Regierungen mit einer Mehrheit im Parlament - koalieren seit 2015 zwei liberale Parteien mit den Konservativen. Eine Mehrheit haben sie dennoch nicht, wovon derzeit die rechte Dansk Folkeparti profitiert, die als Mehrheitsbeschafferin die Regierung vor sich hertreiben kann.

Auch in Großbritannien gab es im 20. Jahrhundert bereits Minderheitskabinette. Das amtierende macht aber eine besonders schlechte Figur: Premierministerin Theresa May, die nach vorgezogenen Wahlen im Juni dieses Jahres die Tory-Mehrheit im Unterhaus eingebüßt hatte, musste einen Pakt mit der nordirischen Regionalpartei DUP eingehen, um an der Macht zu bleiben. Dieser sieht vor, dass die DUP bei Haushalts- und Sicherheitsfragen für May stimmt. Andere Themen entscheiden die zehn Abgeordneten von Fall und Fall. Der Deal gilt für zwei Jahre, im Gegenzug erhält Nordirland eine Finanzspritze von einer Milliarde Pfund. Dieses Konstrukt war von Beginn an umstritten und fragil - May musste für den Machterhalt einen hohen Preis zahlen, den eigenen Spielraum zugunsten der DUP einschränken und setzt zudem die Stabilität in Nordirland aufs Spiel. Dort ist seit Monaten die Bildung einer Regionalregierung unmöglich, auch wegen der Einbindung der DUP in die nationale Politik.

Anders als May konnte der spanische Premierminister Mariano Rajoy bis zum Katalonienkonflikt recht problemlos durchregieren. Dabei ging der Bildung seiner Minderheitsregierung eine denkbar schwere Geburt voraus: Bei den Wahlen Ende 2015 verlor die Partido Popular (PP) ihre absolute Mehrheit, im Juni 2016 musste erneut gewählt werden, da die Regierungsbildung scheiterte. Die Neuwahlen aber änderten an der Situation wenig, so dass Rajoy schließlich sein jetziges, von den Liberalen und der Nationalpartei des Baskenlandes geduldetes Kabinett formte.

Zwar hatte es so etwas vorher in Spanien schon gegeben: José Zapatero von der PSOE beispielsweise regierte von 2004 an zwei Amtsperioden ohne Mehrheit im Parlament; auch der konservative José María Aznar musste 1996 eine geduldete Minderheitsregierung auf die Beine stellen. Die Regel waren nach dem Ende der Diktatur dennoch stabile Mehrheiten. Spätestens mit der Wahl 2015 ist das Geschichte: Hatten PSOE und PP bis dahin jahrzehntelang gemeinsam 70 bis 80 Prozent der Stimmen auf sich vereinen können, erhielten sie nurmehr knapp 50 Prozent. Dafür fuhr die neue Bewegungspartei Podemos über 20 Prozent ein.

Während Großbritannien, Dänemark oder Spanien konservativ bzw. liberal geführt werden, hat Portugal seit 2015 eine links-sozialdemokratische Minderheitsregierung. Hier übernahm der Sozialist António Costa das Ruder. Seine Regierung lässt sich sowohl von der CDU (einem Bündnis aus Grünen und Kommunisten) als auch dem Linksblock unterstützen, festgehalten ist dies in zwei separaten Tolerierungsabkommen.

Erfahrungen gibt es also reichlich in Europa. Und auch wenn sie unterschiedlich ausfallen - zumindest die von Angela Merkel einer Minderheitenlösung abgesprochene Stabilität scheint vielerorts kein Problem zu sein.

Am Ende ist es auch eine Frage der Alternativen und da zeigt sich auf dem Kontinent in allen Himmelsrichtungen ein ähnlicher Trend: Partei-Neugründungen und die Abwendung vieler Wähler von den traditionellen Volksparteien nötigen zum häufigeren Rückgriff auf Minderheitskabinette. Früher oder später wohl auch in der Bundesrepublik.

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